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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung
etc.
an und eröffnete allen Franzosen die freie Bahn zur Erhebung
und zum Ansehen. Er versuchte in dem Senat auch eine
Aristokratie wieder zu schaffen, welche nach seinem Ausdruck
"die Souveränetät erhält, während die Demokratie zur Sou-
veränetät erhebt." 5 Hätte seine Dynastie ruhig
fortregiert,
so hätte sich vielleicht mit der Zeit aus diesen Anfängen eine
nationale constitutionelle Monarchie herausbilden können. Aber
in den Zeiten seiner Macht schienen ihm die politischen Rechte
der übrigen Körperschaften als Schranken seines absoluten
Willens unbequem. Und als er vom Throne stürzte, wurden
seine Institutionen in seinen Ruin verwickelt.

Die Charte Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814 war ihrem
Wesen nach ein Vergleich zwischen der alten königlichen
Dynastie, welche aus der Verbannung zurückkehrte, und dem
französischen Volke, welches die Zeiten der Revolution und
der Napoleonischen Herrschaft durchlebt hatte, ein Vergleich
zwischen den Rechtsansprüchen des früher absoluten König-
thums und den neuen politischen Gewalten, zwischen der
Legitimität und dem Besitzstand aus der Revolution. In ihrer
Form aber war sie die freie Gabe des Königs, ein Ausflusz
seiner alleinigen Autorität. 6 Auch abgesehen von diesem
Widerspruch zwischen Form und Inhalt, litt diese Verfassung
noch an andern Widersprüchen. Aber immerhin war sie besser
als die vorausgegangenen Versuche, die constitutionelle Mon-
archie in Frankreich zu verwirklichen.

Offenbar waren die Grundformen der englischen Verfassung
nachgebildet, aber sie waren mit einem andern Geiste erfüllt.
Die Gewalt war dem Könige von Frankreich in gröszerem

5 Las Cases
Mem. III. S. 32. Vgl. oben Buch II, Cap. 10. Die beste
Zeichnung des reinen Urbildes des Napoleonischen States, hinter welchem
die Wirklichkeit freilich weit zurückgeblieben ist, hat sein Neffe und
Erbe im Jahre 1839 in der Schrift "Idees
Napoleoniennes" entworfen.
6 Einleitungsworte:
"Nous avons volontairement et par le libre exer-
cice de notre autorite royale accorde et accordons, fait
concession et
octroi a nos sujets -- de la Charte constitutionelle qui
suit."

Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung
etc.
an und eröffnete allen Franzosen die freie Bahn zur Erhebung
und zum Ansehen. Er versuchte in dem Senat auch eine
Aristokratie wieder zu schaffen, welche nach seinem Ausdruck
„die Souveränetät erhält, während die Demokratie zur Sou-
veränetät erhebt.“ 5 Hätte seine Dynastie ruhig
fortregiert,
so hätte sich vielleicht mit der Zeit aus diesen Anfängen eine
nationale constitutionelle Monarchie herausbilden können. Aber
in den Zeiten seiner Macht schienen ihm die politischen Rechte
der übrigen Körperschaften als Schranken seines absoluten
Willens unbequem. Und als er vom Throne stürzte, wurden
seine Institutionen in seinen Ruin verwickelt.

Die Charte Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814 war ihrem
Wesen nach ein Vergleich zwischen der alten königlichen
Dynastie, welche aus der Verbannung zurückkehrte, und dem
französischen Volke, welches die Zeiten der Revolution und
der Napoleonischen Herrschaft durchlebt hatte, ein Vergleich
zwischen den Rechtsansprüchen des früher absoluten König-
thums und den neuen politischen Gewalten, zwischen der
Legitimität und dem Besitzstand aus der Revolution. In ihrer
Form aber war sie die freie Gabe des Königs, ein Ausflusz
seiner alleinigen Autorität. 6 Auch abgesehen von diesem
Widerspruch zwischen Form und Inhalt, litt diese Verfassung
noch an andern Widersprüchen. Aber immerhin war sie besser
als die vorausgegangenen Versuche, die constitutionelle Mon-
archie in Frankreich zu verwirklichen.

Offenbar waren die Grundformen der englischen Verfassung
nachgebildet, aber sie waren mit einem andern Geiste erfüllt.
Die Gewalt war dem Könige von Frankreich in gröszerem

5 Las Cases
Mém. III. S. 32. Vgl. oben Buch II, Cap. 10. Die beste
Zeichnung des reinen Urbildes des Napoleonischen States, hinter welchem
die Wirklichkeit freilich weit zurückgeblieben ist, hat sein Neffe und
Erbe im Jahre 1839 in der Schrift „Idées
Napoléoniennes“ entworfen.
6 Einleitungsworte:
„Nous avons volontairement et par le libre exer-
cice de notre autorité royale accordé et accordons, fait
concession et
octroi à nos sujets — de la Charte constitutionelle qui
suit.“
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[455/0473] Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc. an und eröffnete allen Franzosen die freie Bahn zur Erhebung und zum Ansehen. Er versuchte in dem Senat auch eine Aristokratie wieder zu schaffen, welche nach seinem Ausdruck „die Souveränetät erhält, während die Demokratie zur Sou- veränetät erhebt.“ 5 Hätte seine Dynastie ruhig fortregiert, so hätte sich vielleicht mit der Zeit aus diesen Anfängen eine nationale constitutionelle Monarchie herausbilden können. Aber in den Zeiten seiner Macht schienen ihm die politischen Rechte der übrigen Körperschaften als Schranken seines absoluten Willens unbequem. Und als er vom Throne stürzte, wurden seine Institutionen in seinen Ruin verwickelt. Die Charte Ludwigs XVIII. vom 4. Juni 1814 war ihrem Wesen nach ein Vergleich zwischen der alten königlichen Dynastie, welche aus der Verbannung zurückkehrte, und dem französischen Volke, welches die Zeiten der Revolution und der Napoleonischen Herrschaft durchlebt hatte, ein Vergleich zwischen den Rechtsansprüchen des früher absoluten König- thums und den neuen politischen Gewalten, zwischen der Legitimität und dem Besitzstand aus der Revolution. In ihrer Form aber war sie die freie Gabe des Königs, ein Ausflusz seiner alleinigen Autorität. 6 Auch abgesehen von diesem Widerspruch zwischen Form und Inhalt, litt diese Verfassung noch an andern Widersprüchen. Aber immerhin war sie besser als die vorausgegangenen Versuche, die constitutionelle Mon- archie in Frankreich zu verwirklichen. Offenbar waren die Grundformen der englischen Verfassung nachgebildet, aber sie waren mit einem andern Geiste erfüllt. Die Gewalt war dem Könige von Frankreich in gröszerem 5 Las Cases Mém. III. S. 32. Vgl. oben Buch II, Cap. 10. Die beste Zeichnung des reinen Urbildes des Napoleonischen States, hinter welchem die Wirklichkeit freilich weit zurückgeblieben ist, hat sein Neffe und Erbe im Jahre 1839 in der Schrift „Idées Napoléoniennes“ entworfen. 6 Einleitungsworte: „Nous avons volontairement et par le libre exer- cice de notre autorité royale accordé et accordons, fait concession et octroi à nos sujets — de la Charte constitutionelle qui suit.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/473>, abgerufen am 24.11.2024.