Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
Lehenssystem die stufenweise Ableitung jeder stat-
lichen Gewalt von der königlichen Gewalt
. Der
König selbst hat seine Macht in einheitlicher Fülle von Gott
zu Lehen empfangen. 9 Wie die Planeten ihr Licht von der
Sonne bekommen, so erhalten die niederen Herren sodann
ihre Herrschaft von dem obersten Lehensherrn, dem Könige. 10
Sie erhalten die Gewalt, aber nicht etwa als blosze öffentliche
Beamte des States, als Organe der Regierung, sondern je für
ihre besonderen und abgegrenzten Kreise zu eigenem Recht
und Genusz
, wie sie die Lehensgüter zu eigener Verfügung
und Fruchtgenusz empfangen. Die Mischung politischer
Befugnisse
mit privatrechtlicher Selbständigkeit,
und sogar die erbliche Verbindung der verschiedenen Stufen
der Statsgewalt mit bestimmten Familien und festem Grund-
besitz sind charakteristische Eigenschaften des Lehenssystems.
Der König kann daher weder sich weigern, dem erbberech-
tigten Vasallen die Herrschaft zu verleihen, noch darf er in
die Sphäre der verliehenen Herrschaft eingreifen, und sei es
bestimmend, sei es beschränkend, einwirken. Jeder Kreis
der Gewalt ist in sich abgeschlossen und wesentlich selb-
ständig.

Die Einheit der Statsgewalt ist daher in dem Lehen-
state fast nur eine formelle. Sobald es darauf ankommt,

9 Nach dem Sachsenspiegel I. 1. ist es zunächst der Kaiser,
dem Gott das weltliche Schwert verleiht; woraus denn folgt, dasz die
Könige ihre Macht durch die Vermittlung des Kaisers empfangen. Diese
Theorie kam indessen nicht zu voller practischer Geltung; und die Könige,
obwohl sie die höhere Würde des Kaisers respectirten, leiteten doch ihre
Macht unmittelbar von Gott ab. Altes französisches Rechtssprüchwort:
"Le Roi ne tient que de Dieu et de l'Epee." Loysel I. 2.
10 Sachsenspiegel III. 58: "Des rikes vorsten ne solen nenen
leien to herren hebben, wen den koning. It n'is nen vanlen, dar die
man af moge des rikes vorste wesen, he ne vntva't von deme
koninge
."
III. 64. §. 5. Koninges ban ne mut nieman lien wen die koning selve.Die koning ne mach mit rechte nicht weigeren den ban to liene, deme
it gerichte gelegen is.
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 28

Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
Lehenssystem die stufenweise Ableitung jeder stat-
lichen Gewalt von der königlichen Gewalt
. Der
König selbst hat seine Macht in einheitlicher Fülle von Gott
zu Lehen empfangen. 9 Wie die Planeten ihr Licht von der
Sonne bekommen, so erhalten die niederen Herren sodann
ihre Herrschaft von dem obersten Lehensherrn, dem Könige. 10
Sie erhalten die Gewalt, aber nicht etwa als blosze öffentliche
Beamte des States, als Organe der Regierung, sondern je für
ihre besonderen und abgegrenzten Kreise zu eigenem Recht
und Genusz
, wie sie die Lehensgüter zu eigener Verfügung
und Fruchtgenusz empfangen. Die Mischung politischer
Befugnisse
mit privatrechtlicher Selbständigkeit,
und sogar die erbliche Verbindung der verschiedenen Stufen
der Statsgewalt mit bestimmten Familien und festem Grund-
besitz sind charakteristische Eigenschaften des Lehenssystems.
Der König kann daher weder sich weigern, dem erbberech-
tigten Vasallen die Herrschaft zu verleihen, noch darf er in
die Sphäre der verliehenen Herrschaft eingreifen, und sei es
bestimmend, sei es beschränkend, einwirken. Jeder Kreis
der Gewalt ist in sich abgeschlossen und wesentlich selb-
ständig.

Die Einheit der Statsgewalt ist daher in dem Lehen-
state fast nur eine formelle. Sobald es darauf ankommt,

9 Nach dem Sachsenspiegel I. 1. ist es zunächst der Kaiser,
dem Gott das weltliche Schwert verleiht; woraus denn folgt, dasz die
Könige ihre Macht durch die Vermittlung des Kaisers empfangen. Diese
Theorie kam indessen nicht zu voller practischer Geltung; und die Könige,
obwohl sie die höhere Würde des Kaisers respectirten, leiteten doch ihre
Macht unmittelbar von Gott ab. Altes französisches Rechtssprüchwort:
„Le Roi ne tient que de Dieu et de l'Épée.“ Loysel I. 2.
10 Sachsenspiegel III. 58: „Des rikes vorsten ne solen nenen
leien to herren hebben, wen den koning. It n'is nen vanlen, dar die
man af moge des rikes vorste wesen, he ne vntva't von deme
koninge
.“
III. 64. §. 5. Koninges ban ne mut nieman lien wen die koning selve.Die koning ne mach mit rechte nicht weigeren den ban to liene, deme
it gerichte gelegen is.
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 28
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0451" n="433"/><fw place="top" type="header">Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.</fw><lb/>
Lehenssystem die <hi rendition="#g">stufenweise Ableitung jeder stat-<lb/>
lichen Gewalt von der königlichen Gewalt</hi>. Der<lb/>
König selbst hat seine Macht in einheitlicher Fülle von Gott<lb/>
zu Lehen empfangen. <note place="foot" n="9">Nach dem <hi rendition="#g">Sachsenspiegel</hi> I. 1. ist es zunächst der <hi rendition="#g">Kaiser</hi>,<lb/>
dem Gott das weltliche Schwert verleiht; woraus denn folgt, dasz die<lb/>
Könige ihre Macht durch die Vermittlung des Kaisers empfangen. Diese<lb/>
Theorie kam indessen nicht zu voller practischer Geltung; und die Könige,<lb/>
obwohl sie die höhere Würde des Kaisers respectirten, leiteten doch ihre<lb/>
Macht unmittelbar von Gott ab. Altes französisches Rechtssprüchwort:<lb/>
&#x201E;Le Roi ne tient que de Dieu et de l'Épée.&#x201C; <hi rendition="#g">Loysel</hi> I. 2.</note> Wie die Planeten ihr Licht von der<lb/>
Sonne bekommen, so erhalten die niederen Herren sodann<lb/>
ihre Herrschaft von dem obersten Lehensherrn, dem Könige. <note place="foot" n="10"><hi rendition="#g">Sachsenspiegel</hi> III. 58: &#x201E;Des rikes vorsten ne solen nenen<lb/>
leien to herren hebben, wen den koning. It n'is nen vanlen, dar die<lb/>
man af moge des rikes vorste wesen, <hi rendition="#g">he ne vntva't von deme<lb/>
koninge</hi>.&#x201C;<lb/>
III. 64. §. 5. Koninges ban ne mut nieman lien wen die koning selve.Die koning ne mach mit rechte nicht weigeren den ban to liene, deme<lb/>
it gerichte gelegen is.</note><lb/>
Sie erhalten die Gewalt, aber nicht etwa als blosze öffentliche<lb/>
Beamte des States, als Organe der Regierung, sondern je für<lb/>
ihre besonderen und abgegrenzten Kreise zu <hi rendition="#g">eigenem Recht<lb/>
und Genusz</hi>, wie sie die Lehensgüter zu eigener Verfügung<lb/>
und Fruchtgenusz empfangen. Die Mischung <hi rendition="#g">politischer<lb/>
Befugnisse</hi> mit <hi rendition="#g">privatrechtlicher Selbständigkeit</hi>,<lb/>
und sogar die <hi rendition="#g">erbliche</hi> Verbindung der verschiedenen Stufen<lb/>
der Statsgewalt mit bestimmten Familien und festem Grund-<lb/>
besitz sind charakteristische Eigenschaften des Lehenssystems.<lb/>
Der König kann daher weder sich weigern, dem erbberech-<lb/>
tigten Vasallen die Herrschaft zu verleihen, noch darf er in<lb/>
die Sphäre der verliehenen Herrschaft eingreifen, und sei es<lb/>
bestimmend, sei es beschränkend, einwirken. Jeder Kreis<lb/>
der Gewalt ist in sich abgeschlossen und wesentlich selb-<lb/>
ständig.</p><lb/>
          <p>Die Einheit der Statsgewalt ist daher in dem Lehen-<lb/>
state fast nur eine formelle. Sobald es darauf ankommt,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Bluntschli</hi>, allgemeine Statslehre. 28</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[433/0451] Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc. Lehenssystem die stufenweise Ableitung jeder stat- lichen Gewalt von der königlichen Gewalt. Der König selbst hat seine Macht in einheitlicher Fülle von Gott zu Lehen empfangen. 9 Wie die Planeten ihr Licht von der Sonne bekommen, so erhalten die niederen Herren sodann ihre Herrschaft von dem obersten Lehensherrn, dem Könige. 10 Sie erhalten die Gewalt, aber nicht etwa als blosze öffentliche Beamte des States, als Organe der Regierung, sondern je für ihre besonderen und abgegrenzten Kreise zu eigenem Recht und Genusz, wie sie die Lehensgüter zu eigener Verfügung und Fruchtgenusz empfangen. Die Mischung politischer Befugnisse mit privatrechtlicher Selbständigkeit, und sogar die erbliche Verbindung der verschiedenen Stufen der Statsgewalt mit bestimmten Familien und festem Grund- besitz sind charakteristische Eigenschaften des Lehenssystems. Der König kann daher weder sich weigern, dem erbberech- tigten Vasallen die Herrschaft zu verleihen, noch darf er in die Sphäre der verliehenen Herrschaft eingreifen, und sei es bestimmend, sei es beschränkend, einwirken. Jeder Kreis der Gewalt ist in sich abgeschlossen und wesentlich selb- ständig. Die Einheit der Statsgewalt ist daher in dem Lehen- state fast nur eine formelle. Sobald es darauf ankommt, 9 Nach dem Sachsenspiegel I. 1. ist es zunächst der Kaiser, dem Gott das weltliche Schwert verleiht; woraus denn folgt, dasz die Könige ihre Macht durch die Vermittlung des Kaisers empfangen. Diese Theorie kam indessen nicht zu voller practischer Geltung; und die Könige, obwohl sie die höhere Würde des Kaisers respectirten, leiteten doch ihre Macht unmittelbar von Gott ab. Altes französisches Rechtssprüchwort: „Le Roi ne tient que de Dieu et de l'Épée.“ Loysel I. 2. 10 Sachsenspiegel III. 58: „Des rikes vorsten ne solen nenen leien to herren hebben, wen den koning. It n'is nen vanlen, dar die man af moge des rikes vorste wesen, he ne vntva't von deme koninge.“ III. 64. §. 5. Koninges ban ne mut nieman lien wen die koning selve.Die koning ne mach mit rechte nicht weigeren den ban to liene, deme it gerichte gelegen is. Bluntschli, allgemeine Statslehre. 28

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/451
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/451>, abgerufen am 23.11.2024.