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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
durchzugreifen, so erheben sich oft unübersteigliche Schwie-
rigkeiten. Die besondere Macht der grossen und kleinen Va-
sallen setzt sich wider die allgemeine Statsmacht, und statt
diese zu vermitteln, tritt sie ihr entgegen und hemmt ihre
Wirkungen. Das nationale Leben wird so gespalten in eine
Mannichfaltigkeit particulärer Gestaltungen, die Eine Stats-
macht aufgelöst in eine Vielheit beschränkter Herrlichkeiten.
Dem individuellen Willen und der individuellen Neigung, be-
sonders der Magnaten des Landes, wird ein freier Spielraum
auf dem politischen Gebiete eröffnet, und ein bunter Reich-
thum der Formen und Einrichtungen entfaltet; aber der Zu-
sammenhang des Ganzen ist überall durchbrochen, und der
Stat selbst gebunden. Die Aristokratie nur ist stark
und frei
, das Königthum zwar an Ehren reich an
Macht
aber arm und das Volk in der naturgemässen Ent-
wicklung seiner Kräfte
auf allen Seiten gehemmt. Je
ferner die Volksclassen von dem Centrum dieses States, von
dem obersten Lehensherrn stehen, desto drückender wird für
sie das Gewicht der in der Mitte liegenden Herrschaftsrechte,
und desto lästiger auch die Willkür der kleinen Herren.

Die beiden Hauptbestandtheile der germanischen obrig-
keitlichen Gewalt, der Heerbann und der Gerichtsbann,
wurden so unter die zahlreichen Herren und Vasallen ver-
theilt. Die eigentliche Regierungsgewalt aber wurde in
Vergleich mit den Grundsätzen der fränkischen Monarchie
wieder vermindert und mehr als früher beschränkt. Die ganze
Verfassung war wesentlich eine aristokratische geworden,
obwohl sie mit einer monarchischen Krone geschmückt war.
Die französischen Könige aus dem Kapetingischen Geschlechte
ragten nur wenig über die Seigneurs hervor; 11 auch die deut-

11 Schon Hugo Capet schrieb an den Erzbischof von Sens: "regali
potentia in nullo abuti volentes, omnia negotia reipublicac in consultatione
et sententia fidelium nostrorum
disponimus." Mirabeau, Essai sur le despot.
Oenvres II. S. 390.

Sechstes Buch. Die Statsformen.
durchzugreifen, so erheben sich oft unübersteigliche Schwie-
rigkeiten. Die besondere Macht der grossen und kleinen Va-
sallen setzt sich wider die allgemeine Statsmacht, und statt
diese zu vermitteln, tritt sie ihr entgegen und hemmt ihre
Wirkungen. Das nationale Leben wird so gespalten in eine
Mannichfaltigkeit particulärer Gestaltungen, die Eine Stats-
macht aufgelöst in eine Vielheit beschränkter Herrlichkeiten.
Dem individuellen Willen und der individuellen Neigung, be-
sonders der Magnaten des Landes, wird ein freier Spielraum
auf dem politischen Gebiete eröffnet, und ein bunter Reich-
thum der Formen und Einrichtungen entfaltet; aber der Zu-
sammenhang des Ganzen ist überall durchbrochen, und der
Stat selbst gebunden. Die Aristokratie nur ist stark
und frei
, das Königthum zwar an Ehren reich an
Macht
aber arm und das Volk in der naturgemässen Ent-
wicklung seiner Kräfte
auf allen Seiten gehemmt. Je
ferner die Volksclassen von dem Centrum dieses States, von
dem obersten Lehensherrn stehen, desto drückender wird für
sie das Gewicht der in der Mitte liegenden Herrschaftsrechte,
und desto lästiger auch die Willkür der kleinen Herren.

Die beiden Hauptbestandtheile der germanischen obrig-
keitlichen Gewalt, der Heerbann und der Gerichtsbann,
wurden so unter die zahlreichen Herren und Vasallen ver-
theilt. Die eigentliche Regierungsgewalt aber wurde in
Vergleich mit den Grundsätzen der fränkischen Monarchie
wieder vermindert und mehr als früher beschränkt. Die ganze
Verfassung war wesentlich eine aristokratische geworden,
obwohl sie mit einer monarchischen Krone geschmückt war.
Die französischen Könige aus dem Kapetingischen Geschlechte
ragten nur wenig über die Seigneurs hervor; 11 auch die deut-

11 Schon Hugo Capet schrieb an den Erzbischof von Sens: „regali
potentia in nullo abuti volentes, omnia negotia reipublicac in consultatione
et sententia fidelium nostrorum
disponimus.“ Mirabeau, Essai sur le despot.
Oenvres II. S. 390.
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[434/0452] Sechstes Buch. Die Statsformen. durchzugreifen, so erheben sich oft unübersteigliche Schwie- rigkeiten. Die besondere Macht der grossen und kleinen Va- sallen setzt sich wider die allgemeine Statsmacht, und statt diese zu vermitteln, tritt sie ihr entgegen und hemmt ihre Wirkungen. Das nationale Leben wird so gespalten in eine Mannichfaltigkeit particulärer Gestaltungen, die Eine Stats- macht aufgelöst in eine Vielheit beschränkter Herrlichkeiten. Dem individuellen Willen und der individuellen Neigung, be- sonders der Magnaten des Landes, wird ein freier Spielraum auf dem politischen Gebiete eröffnet, und ein bunter Reich- thum der Formen und Einrichtungen entfaltet; aber der Zu- sammenhang des Ganzen ist überall durchbrochen, und der Stat selbst gebunden. Die Aristokratie nur ist stark und frei, das Königthum zwar an Ehren reich an Macht aber arm und das Volk in der naturgemässen Ent- wicklung seiner Kräfte auf allen Seiten gehemmt. Je ferner die Volksclassen von dem Centrum dieses States, von dem obersten Lehensherrn stehen, desto drückender wird für sie das Gewicht der in der Mitte liegenden Herrschaftsrechte, und desto lästiger auch die Willkür der kleinen Herren. Die beiden Hauptbestandtheile der germanischen obrig- keitlichen Gewalt, der Heerbann und der Gerichtsbann, wurden so unter die zahlreichen Herren und Vasallen ver- theilt. Die eigentliche Regierungsgewalt aber wurde in Vergleich mit den Grundsätzen der fränkischen Monarchie wieder vermindert und mehr als früher beschränkt. Die ganze Verfassung war wesentlich eine aristokratische geworden, obwohl sie mit einer monarchischen Krone geschmückt war. Die französischen Könige aus dem Kapetingischen Geschlechte ragten nur wenig über die Seigneurs hervor; 11 auch die deut- 11 Schon Hugo Capet schrieb an den Erzbischof von Sens: „regali potentia in nullo abuti volentes, omnia negotia reipublicac in consultatione et sententia fidelium nostrorum disponimus.“ Mirabeau, Essai sur le despot. Oenvres II. S. 390.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/452>, abgerufen am 02.05.2024.