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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.

Nur die Verfassung der christlichen Kirche, die Hierarchie
des Klerus folgte ganz dem theokratischen Zug. Die welt-
lichen Fürsten und Obrigkeiten wurden doch auch von der
katholischen Kirche oft an ihren menschlichen Ursprung erin-
nert. Der Grundcharakter der mittelalterlichen Statsformen in
Europa ist eher Aristokratie und Monarchie als Theokratie.

Dagegen können die ebenfalls im Mittelalter entstandenen
mohammedanischen Staten eher als theokratisch be-
zeichnet werden. Zwar glaubt auch die mohammedanische
Welt nicht mehr, wie die alten Juden, an eine unmittelbare
und regelmäszige Gottesregierung. Die mosaische Theokratie
ward von Mohammed nicht wiederhergestellt. Aber der Koran
lehrt, dasz Gott die Herrschaft gebe wem er will, und be-
trachtet den menschlichen Fürsten an der Spitze des Stats
als den Statthalter und Lehensträger Gottes. In dem
Khalifat oder der idealsten Darstellung des mohammedani-
schen Statensystems einigen sich die Eigenschaften des Ober-
priesters und des Oberkönigs. Der Khalif ist Papst und Kaiser
zugleich. Religion und Recht, Theologie und Jurisprudenz
werden nicht genügend unterschieden. Die Gottesgelehrten
sind auch Rechtsgelehrte. Der Islam verträgt sich weit eher
mit der Theokratie als das Christenthum. 13

Die moderne Zeit endlich hat eine offenbare Abneigung
gegen die theokratische Statsform und gegen Alles, was an
dieselbe erinnert. Ihr Streben ist vielmehr der humanen
Statsordnung zugewendet. Die Beseitigung aller priesterlichen
Fürstenthümer, zuletzt 1870 der päpstlichen Landesherrschaft
im Kirchenstat, ist ein beredtes Zeugnisz dieser Zeitrichtung. 14


13 Ueber einige andere theokratisirende Staten vgl. Bluntschli,
Artikel Ideokratie im deutschen Statswörterbuch, Bd. V; v. Mohl, En-
cyclopädie der Statswissensch. §. 41.
14 Selbst die Verfassung von Montenegro, die vor wenigen Jahren
noch in dem Vladika ein kriegerisch-priesterliches Oberhaupt an der
Spitze hatte, ist seither durch die Trennung der priesterlichen Würde
und der Regierungshoheit den übrigen europäischen Staten näher getreten.
Sechstes Buch. Die Statsformen.

Nur die Verfassung der christlichen Kirche, die Hierarchie
des Klerus folgte ganz dem theokratischen Zug. Die welt-
lichen Fürsten und Obrigkeiten wurden doch auch von der
katholischen Kirche oft an ihren menschlichen Ursprung erin-
nert. Der Grundcharakter der mittelalterlichen Statsformen in
Europa ist eher Aristokratie und Monarchie als Theokratie.

Dagegen können die ebenfalls im Mittelalter entstandenen
mohammedanischen Staten eher als theokratisch be-
zeichnet werden. Zwar glaubt auch die mohammedanische
Welt nicht mehr, wie die alten Juden, an eine unmittelbare
und regelmäszige Gottesregierung. Die mosaische Theokratie
ward von Mohammed nicht wiederhergestellt. Aber der Koran
lehrt, dasz Gott die Herrschaft gebe wem er will, und be-
trachtet den menschlichen Fürsten an der Spitze des Stats
als den Statthalter und Lehensträger Gottes. In dem
Khalifat oder der idealsten Darstellung des mohammedani-
schen Statensystems einigen sich die Eigenschaften des Ober-
priesters und des Oberkönigs. Der Khalif ist Papst und Kaiser
zugleich. Religion und Recht, Theologie und Jurisprudenz
werden nicht genügend unterschieden. Die Gottesgelehrten
sind auch Rechtsgelehrte. Der Islam verträgt sich weit eher
mit der Theokratie als das Christenthum. 13

Die moderne Zeit endlich hat eine offenbare Abneigung
gegen die theokratische Statsform und gegen Alles, was an
dieselbe erinnert. Ihr Streben ist vielmehr der humanen
Statsordnung zugewendet. Die Beseitigung aller priesterlichen
Fürstenthümer, zuletzt 1870 der päpstlichen Landesherrschaft
im Kirchenstat, ist ein beredtes Zeugnisz dieser Zeitrichtung. 14


13 Ueber einige andere theokratisirende Staten vgl. Bluntschli,
Artikel Ideokratie im deutschen Statswörterbuch, Bd. V; v. Mohl, En-
cyclopädie der Statswissensch. §. 41.
14 Selbst die Verfassung von Montenegro, die vor wenigen Jahren
noch in dem Vladika ein kriegerisch-priesterliches Oberhaupt an der
Spitze hatte, ist seither durch die Trennung der priesterlichen Würde
und der Regierungshoheit den übrigen europäischen Staten näher getreten.
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[396/0414] Sechstes Buch. Die Statsformen. Nur die Verfassung der christlichen Kirche, die Hierarchie des Klerus folgte ganz dem theokratischen Zug. Die welt- lichen Fürsten und Obrigkeiten wurden doch auch von der katholischen Kirche oft an ihren menschlichen Ursprung erin- nert. Der Grundcharakter der mittelalterlichen Statsformen in Europa ist eher Aristokratie und Monarchie als Theokratie. Dagegen können die ebenfalls im Mittelalter entstandenen mohammedanischen Staten eher als theokratisch be- zeichnet werden. Zwar glaubt auch die mohammedanische Welt nicht mehr, wie die alten Juden, an eine unmittelbare und regelmäszige Gottesregierung. Die mosaische Theokratie ward von Mohammed nicht wiederhergestellt. Aber der Koran lehrt, dasz Gott die Herrschaft gebe wem er will, und be- trachtet den menschlichen Fürsten an der Spitze des Stats als den Statthalter und Lehensträger Gottes. In dem Khalifat oder der idealsten Darstellung des mohammedani- schen Statensystems einigen sich die Eigenschaften des Ober- priesters und des Oberkönigs. Der Khalif ist Papst und Kaiser zugleich. Religion und Recht, Theologie und Jurisprudenz werden nicht genügend unterschieden. Die Gottesgelehrten sind auch Rechtsgelehrte. Der Islam verträgt sich weit eher mit der Theokratie als das Christenthum. 13 Die moderne Zeit endlich hat eine offenbare Abneigung gegen die theokratische Statsform und gegen Alles, was an dieselbe erinnert. Ihr Streben ist vielmehr der humanen Statsordnung zugewendet. Die Beseitigung aller priesterlichen Fürstenthümer, zuletzt 1870 der päpstlichen Landesherrschaft im Kirchenstat, ist ein beredtes Zeugnisz dieser Zeitrichtung. 14 13 Ueber einige andere theokratisirende Staten vgl. Bluntschli, Artikel Ideokratie im deutschen Statswörterbuch, Bd. V; v. Mohl, En- cyclopädie der Statswissensch. §. 41. 14 Selbst die Verfassung von Montenegro, die vor wenigen Jahren noch in dem Vladika ein kriegerisch-priesterliches Oberhaupt an der Spitze hatte, ist seither durch die Trennung der priesterlichen Würde und der Regierungshoheit den übrigen europäischen Staten näher getreten.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/414>, abgerufen am 22.11.2024.