Die theokratischen Staten zeigen folgende gemeinsame Charakterzüge:
1. Religion und Recht, kirchliche und statliche Institu- tionen und Maximen sind in ihnen gemischt und zwar in dem Verhältnisz, dasz die religiösen Elemente das Uebergewicht haben über die politischen. Die Aussicht auf das Leben nach dem Tode beherrscht das irdische Leben so sehr, dasz dieses sich nicht in Freiheit zu entfalten getraut.
2. Das Princip der Autorität ist zu übermensch- licher Erhabenheit gesteigert. Alles bürgerliche und öffent- liche Leben ist davon abhängig. Sie ist ihrer Natur nach absolut. Die Unterthanen stehen mit dem Statshaupte nicht in einem menschlichen Verhältnisz, nicht als Söhne desselben Vaterlandes, oder Genossen desselben Geschlechts und Volks. Der Herrscher erhebt sich über sie in eine unerreichbare Höhe und wird zum allmächtigen Herrn.
3. Soweit diese göttliche Autorität als abgeschlossene Offenbarung einer göttlichen Gesetzgebung sich vor Zeiten kund gegeben hat, wie bei den Juden in dem Mosaischen Gesetz, wie bei den Mohammedanern in dem Koran, begrün- det sie eine feste, aber auch unveränderliche Ordnung.
Soweit sie dagegen in den wechselnden Schicksalen des Völkerlebens über die Bedürfnisse des Augenblicks ent- scheiden, wenn sie neue Gebote oder Verbote geben soll, so gibt es nur zwei Wege, auf denen die Stellvertreter der gött- lichen Herrschaft diesen Willen erfahren können. Entweder es bestehen äuszere Einrichtungen, die dazu dienen, den Willen Gottes zu erkunden; oder man vertraut der innern Inspiration. Wie man die erstere auch ausdenke, ob man nach Art der Chaldäer in den Sternen lese, oder mit den Juden auf den zündenden Blick der Sonne warte, ob man in der Weise der römischen Auguren und Haruspices den Flug der Vögel deute und die Eingeweide der Opferthiere prüfe, oder wie die Hellenen die Orakel befrage oder wie die Ger-
Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
Die theokratischen Staten zeigen folgende gemeinsame Charakterzüge:
1. Religion und Recht, kirchliche und statliche Institu- tionen und Maximen sind in ihnen gemischt und zwar in dem Verhältnisz, dasz die religiösen Elemente das Uebergewicht haben über die politischen. Die Aussicht auf das Leben nach dem Tode beherrscht das irdische Leben so sehr, dasz dieses sich nicht in Freiheit zu entfalten getraut.
2. Das Princip der Autorität ist zu übermensch- licher Erhabenheit gesteigert. Alles bürgerliche und öffent- liche Leben ist davon abhängig. Sie ist ihrer Natur nach absolut. Die Unterthanen stehen mit dem Statshaupte nicht in einem menschlichen Verhältnisz, nicht als Söhne desselben Vaterlandes, oder Genossen desselben Geschlechts und Volks. Der Herrscher erhebt sich über sie in eine unerreichbare Höhe und wird zum allmächtigen Herrn.
3. Soweit diese göttliche Autorität als abgeschlossene Offenbarung einer göttlichen Gesetzgebung sich vor Zeiten kund gegeben hat, wie bei den Juden in dem Mosaischen Gesetz, wie bei den Mohammedanern in dem Koran, begrün- det sie eine feste, aber auch unveränderliche Ordnung.
Soweit sie dagegen in den wechselnden Schicksalen des Völkerlebens über die Bedürfnisse des Augenblicks ent- scheiden, wenn sie neue Gebote oder Verbote geben soll, so gibt es nur zwei Wege, auf denen die Stellvertreter der gött- lichen Herrschaft diesen Willen erfahren können. Entweder es bestehen äuszere Einrichtungen, die dazu dienen, den Willen Gottes zu erkunden; oder man vertraut der innern Inspiration. Wie man die erstere auch ausdenke, ob man nach Art der Chaldäer in den Sternen lese, oder mit den Juden auf den zündenden Blick der Sonne warte, ob man in der Weise der römischen Auguren und Haruspices den Flug der Vögel deute und die Eingeweide der Opferthiere prüfe, oder wie die Hellenen die Orakel befrage oder wie die Ger-
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Sechstes Capitel. I. Die (Ideokratie) Theokratie.
Die theokratischen Staten zeigen folgende gemeinsame
Charakterzüge:
1. Religion und Recht, kirchliche und statliche Institu-
tionen und Maximen sind in ihnen gemischt und zwar in dem
Verhältnisz, dasz die religiösen Elemente das Uebergewicht
haben über die politischen. Die Aussicht auf das Leben nach
dem Tode beherrscht das irdische Leben so sehr, dasz dieses
sich nicht in Freiheit zu entfalten getraut.
2. Das Princip der Autorität ist zu übermensch-
licher Erhabenheit gesteigert. Alles bürgerliche und öffent-
liche Leben ist davon abhängig. Sie ist ihrer Natur nach
absolut. Die Unterthanen stehen mit dem Statshaupte nicht
in einem menschlichen Verhältnisz, nicht als Söhne desselben
Vaterlandes, oder Genossen desselben Geschlechts und Volks.
Der Herrscher erhebt sich über sie in eine unerreichbare Höhe
und wird zum allmächtigen Herrn.
3. Soweit diese göttliche Autorität als abgeschlossene
Offenbarung einer göttlichen Gesetzgebung sich vor
Zeiten kund gegeben hat, wie bei den Juden in dem Mosaischen
Gesetz, wie bei den Mohammedanern in dem Koran, begrün-
det sie eine feste, aber auch unveränderliche Ordnung.
Soweit sie dagegen in den wechselnden Schicksalen
des Völkerlebens über die Bedürfnisse des Augenblicks ent-
scheiden, wenn sie neue Gebote oder Verbote geben soll, so
gibt es nur zwei Wege, auf denen die Stellvertreter der gött-
lichen Herrschaft diesen Willen erfahren können. Entweder
es bestehen äuszere Einrichtungen, die dazu dienen, den
Willen Gottes zu erkunden; oder man vertraut der innern
Inspiration. Wie man die erstere auch ausdenke, ob man
nach Art der Chaldäer in den Sternen lese, oder mit den
Juden auf den zündenden Blick der Sonne warte, ob man in
der Weise der römischen Auguren und Haruspices den Flug
der Vögel deute und die Eingeweide der Opferthiere prüfe,
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/415>, abgerufen am 22.11.2024.
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