Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?
Augen haben und die angrenzende Gegenseite übersehen oder
verneinen.

Schon die obige Fragenstellung: Zweck oder Mittel? ver-
leitet zu solcher Einseitigkeit und daher zu dem Irrthum.
Dasselbe Ding kann, nach der einen Beziehung betrachtet,
ein Mittel sein für andere Lebenszwecke und es kann, von
einem anderen Standpunkte aus in anderer Richtung ange-
sehen, den Zweck seines Daseins in sich haben. Wie oft ist
ein Gemälde oder eine Statue ein Mittel, um dem arbeiten-
den Künstler den erforderlichen Lebensunterhalt oder dem
Kunsthändler einen Gewinn zu verschaffen? Dennoch ist das
echte Kunstwerk für den Künstler das Ziel seines höchsten
Strebens. In dem Kunstwerk erkennt der Künstler den Aus-
druck seiner lebendigsten Empfindungen, die leibhafte Dar-
stellung seiner Ideale. Es trägt so seinen Zweck in sich.
Die Ehe dient unzweifelhaft den beiden Ehegatten als ein
Mittel, ihre individuellen Lebensbedürfnisse zu befriedigen
und beiden ein glücklicheres Dasein möglich zu machen.
Die Ehe ist aber auszerdem auch eine Einigung der in Ge-
schlechter gespaltenen Menschennatur, indem sie die Ehe-
gatten zu einer höheren Lebenseinheit verbindet, begründet
sie die Familie und insofern ein höheres Gesammtdasein,
welches dem Einzelleben der Ehegatten und der Familien-
glieder übergeordnet ist. Jeder Ehegatte und jedes Familien-
glied opfert dann willig einen Theil seiner Selbstsucht und
seiner Eigenwilligkeit dem höheren Zwecke, welcher der Ehe
und der Familie inwohnt.

Ganz ebenso ist auch der Stat, je nachdem man ihn
von der einen oder von der andern Seite aus betrachtet, ein
Mittel, um den Individuen zu dienen, die in ihm leben
und hat hinwieder den Selbstzweck in sich, um deszwillen
auch die Individuen ihm untergeordnet sind und ihm dienen.

Die antike Einseitigkeit, welche über dem ganzen Volke
den einzelnen Menschen übersah, gefährdete die Privatfrei-

Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?
Augen haben und die angrenzende Gegenseite übersehen oder
verneinen.

Schon die obige Fragenstellung: Zweck oder Mittel? ver-
leitet zu solcher Einseitigkeit und daher zu dem Irrthum.
Dasselbe Ding kann, nach der einen Beziehung betrachtet,
ein Mittel sein für andere Lebenszwecke und es kann, von
einem anderen Standpunkte aus in anderer Richtung ange-
sehen, den Zweck seines Daseins in sich haben. Wie oft ist
ein Gemälde oder eine Statue ein Mittel, um dem arbeiten-
den Künstler den erforderlichen Lebensunterhalt oder dem
Kunsthändler einen Gewinn zu verschaffen? Dennoch ist das
echte Kunstwerk für den Künstler das Ziel seines höchsten
Strebens. In dem Kunstwerk erkennt der Künstler den Aus-
druck seiner lebendigsten Empfindungen, die leibhafte Dar-
stellung seiner Ideale. Es trägt so seinen Zweck in sich.
Die Ehe dient unzweifelhaft den beiden Ehegatten als ein
Mittel, ihre individuellen Lebensbedürfnisse zu befriedigen
und beiden ein glücklicheres Dasein möglich zu machen.
Die Ehe ist aber auszerdem auch eine Einigung der in Ge-
schlechter gespaltenen Menschennatur, indem sie die Ehe-
gatten zu einer höheren Lebenseinheit verbindet, begründet
sie die Familie und insofern ein höheres Gesammtdasein,
welches dem Einzelleben der Ehegatten und der Familien-
glieder übergeordnet ist. Jeder Ehegatte und jedes Familien-
glied opfert dann willig einen Theil seiner Selbstsucht und
seiner Eigenwilligkeit dem höheren Zwecke, welcher der Ehe
und der Familie inwohnt.

Ganz ebenso ist auch der Stat, je nachdem man ihn
von der einen oder von der andern Seite aus betrachtet, ein
Mittel, um den Individuen zu dienen, die in ihm leben
und hat hinwieder den Selbstzweck in sich, um deszwillen
auch die Individuen ihm untergeordnet sind und ihm dienen.

Die antike Einseitigkeit, welche über dem ganzen Volke
den einzelnen Menschen übersah, gefährdete die Privatfrei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0365" n="347"/><fw place="top" type="header">Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel?</fw><lb/>
Augen haben und die angrenzende Gegenseite übersehen oder<lb/>
verneinen.</p><lb/>
          <p>Schon die obige Fragenstellung: Zweck oder Mittel? ver-<lb/>
leitet zu solcher Einseitigkeit und daher zu dem Irrthum.<lb/>
Dasselbe Ding kann, nach der einen Beziehung betrachtet,<lb/>
ein Mittel sein für andere Lebenszwecke und es kann, von<lb/>
einem anderen Standpunkte aus in anderer Richtung ange-<lb/>
sehen, den Zweck seines Daseins in sich haben. Wie oft ist<lb/>
ein Gemälde oder eine Statue ein Mittel, um dem arbeiten-<lb/>
den Künstler den erforderlichen Lebensunterhalt oder dem<lb/>
Kunsthändler einen Gewinn zu verschaffen? Dennoch ist das<lb/>
echte Kunstwerk für den Künstler das Ziel seines höchsten<lb/>
Strebens. In dem Kunstwerk erkennt der Künstler den Aus-<lb/>
druck seiner lebendigsten Empfindungen, die leibhafte Dar-<lb/>
stellung seiner Ideale. Es trägt so seinen Zweck in sich.<lb/>
Die Ehe dient unzweifelhaft den beiden Ehegatten als ein<lb/>
Mittel, ihre individuellen Lebensbedürfnisse zu befriedigen<lb/>
und beiden ein glücklicheres Dasein möglich zu machen.<lb/>
Die Ehe ist aber auszerdem auch eine Einigung der in Ge-<lb/>
schlechter gespaltenen Menschennatur, indem sie die Ehe-<lb/>
gatten zu einer höheren Lebenseinheit verbindet, begründet<lb/>
sie die Familie und insofern ein höheres Gesammtdasein,<lb/>
welches dem Einzelleben der Ehegatten und der Familien-<lb/>
glieder übergeordnet ist. Jeder Ehegatte und jedes Familien-<lb/>
glied opfert dann willig einen Theil seiner Selbstsucht und<lb/>
seiner Eigenwilligkeit dem höheren Zwecke, welcher der Ehe<lb/>
und der Familie inwohnt.</p><lb/>
          <p>Ganz ebenso ist auch der Stat, je nachdem man ihn<lb/>
von der einen oder von der andern Seite aus betrachtet, ein<lb/><hi rendition="#g">Mittel</hi>, um den Individuen zu dienen, die in ihm leben<lb/>
und hat hinwieder den <hi rendition="#g">Selbstzweck</hi> in sich, um deszwillen<lb/>
auch die Individuen ihm untergeordnet sind und ihm dienen.</p><lb/>
          <p>Die antike Einseitigkeit, welche über dem ganzen Volke<lb/>
den einzelnen Menschen übersah, gefährdete die <hi rendition="#g">Privatfrei-</hi><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[347/0365] Erstes Cap. Ist der Stat Zweck oder Mittel? Inwiefern Zweck und Mittel? Augen haben und die angrenzende Gegenseite übersehen oder verneinen. Schon die obige Fragenstellung: Zweck oder Mittel? ver- leitet zu solcher Einseitigkeit und daher zu dem Irrthum. Dasselbe Ding kann, nach der einen Beziehung betrachtet, ein Mittel sein für andere Lebenszwecke und es kann, von einem anderen Standpunkte aus in anderer Richtung ange- sehen, den Zweck seines Daseins in sich haben. Wie oft ist ein Gemälde oder eine Statue ein Mittel, um dem arbeiten- den Künstler den erforderlichen Lebensunterhalt oder dem Kunsthändler einen Gewinn zu verschaffen? Dennoch ist das echte Kunstwerk für den Künstler das Ziel seines höchsten Strebens. In dem Kunstwerk erkennt der Künstler den Aus- druck seiner lebendigsten Empfindungen, die leibhafte Dar- stellung seiner Ideale. Es trägt so seinen Zweck in sich. Die Ehe dient unzweifelhaft den beiden Ehegatten als ein Mittel, ihre individuellen Lebensbedürfnisse zu befriedigen und beiden ein glücklicheres Dasein möglich zu machen. Die Ehe ist aber auszerdem auch eine Einigung der in Ge- schlechter gespaltenen Menschennatur, indem sie die Ehe- gatten zu einer höheren Lebenseinheit verbindet, begründet sie die Familie und insofern ein höheres Gesammtdasein, welches dem Einzelleben der Ehegatten und der Familien- glieder übergeordnet ist. Jeder Ehegatte und jedes Familien- glied opfert dann willig einen Theil seiner Selbstsucht und seiner Eigenwilligkeit dem höheren Zwecke, welcher der Ehe und der Familie inwohnt. Ganz ebenso ist auch der Stat, je nachdem man ihn von der einen oder von der andern Seite aus betrachtet, ein Mittel, um den Individuen zu dienen, die in ihm leben und hat hinwieder den Selbstzweck in sich, um deszwillen auch die Individuen ihm untergeordnet sind und ihm dienen. Die antike Einseitigkeit, welche über dem ganzen Volke den einzelnen Menschen übersah, gefährdete die Privatfrei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/365
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/365>, abgerufen am 04.05.2024.