Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Fünftes Buch. Der Statszweck.
heit und die Privatwohlfahrt ernstlich und verleitete in
ihren Consequenzen zu der Vorstellung der Statsallmacht,
die dann leicht zur Statstyrannei ausartet.

Die moderne Einseitigkeit, welche vor den Bäumen den
Wald nicht sieht, verkannte umgekehrt die Majestät des
Stats und löste in ihren Consequenzen den Einen Stat in
ein wirres Gewusel von Einzelmenschen auf und be-
günstigte daher die Anarchie.

Allerdings haben die Alten die wichtige Aufgabe des
Stats, die Privatfreiheit zu schützen und die Privatwohlfahrt
der Menge durch seine Anstalten zu fördern, nicht genug
beachtet. Es ist wirklich ein Vorzug der modernen Stats-
praxis, dasz diese Sorge des Stats besser erkannt und viel-
seitiger geübt wird, als im Alterthum. Mit Recht erscheint
den heutigen Menschen eine Politik verächtlich und hassens-
werth, welche die Wohlfahrt der Privaten als einen Spielball
behandelt, der je nach der Laune der statlichen Gewalt-
haber hin- und hergeschleudert oder gelegentlich fallen und
liegen gelassen wird. Wir wissen, dasz das Gesetz und das
Amt nicht blosz Herrschaft über die Individuen üben, son-
dern in sehr wesentlichen Beziehungen ein Dienst für die
Privaten
sind. Eine grosze Anzahl wohlthätiger und ge-
meinnützlicher Anstalten und Einrichtungen der modernen
Staten sind dieser Einsicht zu verdanken. Die moderne Aus-
bildung der Privatfreiheit und vor allen Dingen der indivi-
duellen Geistesfreiheit ist nur von dieser Grundansicht aus
zu erklären, welche hauptsächlich durch das Christenthum für
das religiöse Leben und durch den germanischen Rechtssinn
für das ganze persönliche Rechtsleben begründet und ver-
breitet worden ist.

Aber trotz alledem ist es ein logischer und politischer
Fehler, zu meinen, der Stat sei nur um der Privatper-
sonen
willen da, die Statsverwaltung habe nur für die all-
gemeine Privatwohlfahrt
zu sorgen. Der ganze Stat

Fünftes Buch. Der Statszweck.
heit und die Privatwohlfahrt ernstlich und verleitete in
ihren Consequenzen zu der Vorstellung der Statsallmacht,
die dann leicht zur Statstyrannei ausartet.

Die moderne Einseitigkeit, welche vor den Bäumen den
Wald nicht sieht, verkannte umgekehrt die Majestät des
Stats und löste in ihren Consequenzen den Einen Stat in
ein wirres Gewusel von Einzelmenschen auf und be-
günstigte daher die Anarchie.

Allerdings haben die Alten die wichtige Aufgabe des
Stats, die Privatfreiheit zu schützen und die Privatwohlfahrt
der Menge durch seine Anstalten zu fördern, nicht genug
beachtet. Es ist wirklich ein Vorzug der modernen Stats-
praxis, dasz diese Sorge des Stats besser erkannt und viel-
seitiger geübt wird, als im Alterthum. Mit Recht erscheint
den heutigen Menschen eine Politik verächtlich und hassens-
werth, welche die Wohlfahrt der Privaten als einen Spielball
behandelt, der je nach der Laune der statlichen Gewalt-
haber hin- und hergeschleudert oder gelegentlich fallen und
liegen gelassen wird. Wir wissen, dasz das Gesetz und das
Amt nicht blosz Herrschaft über die Individuen üben, son-
dern in sehr wesentlichen Beziehungen ein Dienst für die
Privaten
sind. Eine grosze Anzahl wohlthätiger und ge-
meinnützlicher Anstalten und Einrichtungen der modernen
Staten sind dieser Einsicht zu verdanken. Die moderne Aus-
bildung der Privatfreiheit und vor allen Dingen der indivi-
duellen Geistesfreiheit ist nur von dieser Grundansicht aus
zu erklären, welche hauptsächlich durch das Christenthum für
das religiöse Leben und durch den germanischen Rechtssinn
für das ganze persönliche Rechtsleben begründet und ver-
breitet worden ist.

Aber trotz alledem ist es ein logischer und politischer
Fehler, zu meinen, der Stat sei nur um der Privatper-
sonen
willen da, die Statsverwaltung habe nur für die all-
gemeine Privatwohlfahrt
zu sorgen. Der ganze Stat

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0366" n="348"/><fw place="top" type="header">Fünftes Buch. Der Statszweck.</fw><lb/><hi rendition="#g">heit</hi> und die <hi rendition="#g">Privatwohlfahrt</hi> ernstlich und verleitete in<lb/>
ihren Consequenzen zu der Vorstellung der <hi rendition="#g">Statsallmacht</hi>,<lb/>
die dann leicht zur <hi rendition="#g">Statstyrannei</hi> ausartet.</p><lb/>
          <p>Die moderne Einseitigkeit, welche vor den Bäumen den<lb/>
Wald nicht sieht, verkannte umgekehrt die <hi rendition="#g">Majestät</hi> des<lb/><hi rendition="#g">Stats</hi> und löste in ihren Consequenzen den Einen Stat in<lb/>
ein wirres <hi rendition="#g">Gewusel</hi> von <hi rendition="#g">Einzelmenschen</hi> auf und be-<lb/>
günstigte daher die <hi rendition="#g">Anarchie</hi>.</p><lb/>
          <p>Allerdings haben die Alten die wichtige Aufgabe des<lb/>
Stats, die Privatfreiheit zu schützen und die Privatwohlfahrt<lb/>
der Menge durch seine Anstalten zu fördern, nicht genug<lb/>
beachtet. Es ist wirklich ein Vorzug der modernen Stats-<lb/>
praxis, dasz diese Sorge des Stats besser erkannt und viel-<lb/>
seitiger geübt wird, als im Alterthum. Mit Recht erscheint<lb/>
den heutigen Menschen eine Politik verächtlich und hassens-<lb/>
werth, welche die Wohlfahrt der Privaten als einen Spielball<lb/>
behandelt, der je nach der Laune der statlichen Gewalt-<lb/>
haber hin- und hergeschleudert oder gelegentlich fallen und<lb/>
liegen gelassen wird. Wir wissen, dasz das <hi rendition="#g">Gesetz</hi> und das<lb/><hi rendition="#g">Amt</hi> nicht blosz Herrschaft über die Individuen üben, son-<lb/>
dern in sehr wesentlichen Beziehungen ein <hi rendition="#g">Dienst für die<lb/>
Privaten</hi> sind. Eine grosze Anzahl wohlthätiger und ge-<lb/>
meinnützlicher Anstalten und Einrichtungen der modernen<lb/>
Staten sind dieser Einsicht zu verdanken. Die moderne Aus-<lb/>
bildung der Privatfreiheit und vor allen Dingen der indivi-<lb/>
duellen Geistesfreiheit ist nur von dieser Grundansicht aus<lb/>
zu erklären, welche hauptsächlich durch das Christenthum für<lb/>
das religiöse Leben und durch den germanischen Rechtssinn<lb/>
für das ganze persönliche Rechtsleben begründet und ver-<lb/>
breitet worden ist.</p><lb/>
          <p>Aber trotz alledem ist es ein logischer und politischer<lb/>
Fehler, zu meinen, der Stat sei <hi rendition="#g">nur</hi> um der <hi rendition="#g">Privatper-<lb/>
sonen</hi> willen da, die Statsverwaltung habe <hi rendition="#g">nur</hi> für die <hi rendition="#g">all-<lb/>
gemeine Privatwohlfahrt</hi> zu sorgen. Der ganze Stat<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[348/0366] Fünftes Buch. Der Statszweck. heit und die Privatwohlfahrt ernstlich und verleitete in ihren Consequenzen zu der Vorstellung der Statsallmacht, die dann leicht zur Statstyrannei ausartet. Die moderne Einseitigkeit, welche vor den Bäumen den Wald nicht sieht, verkannte umgekehrt die Majestät des Stats und löste in ihren Consequenzen den Einen Stat in ein wirres Gewusel von Einzelmenschen auf und be- günstigte daher die Anarchie. Allerdings haben die Alten die wichtige Aufgabe des Stats, die Privatfreiheit zu schützen und die Privatwohlfahrt der Menge durch seine Anstalten zu fördern, nicht genug beachtet. Es ist wirklich ein Vorzug der modernen Stats- praxis, dasz diese Sorge des Stats besser erkannt und viel- seitiger geübt wird, als im Alterthum. Mit Recht erscheint den heutigen Menschen eine Politik verächtlich und hassens- werth, welche die Wohlfahrt der Privaten als einen Spielball behandelt, der je nach der Laune der statlichen Gewalt- haber hin- und hergeschleudert oder gelegentlich fallen und liegen gelassen wird. Wir wissen, dasz das Gesetz und das Amt nicht blosz Herrschaft über die Individuen üben, son- dern in sehr wesentlichen Beziehungen ein Dienst für die Privaten sind. Eine grosze Anzahl wohlthätiger und ge- meinnützlicher Anstalten und Einrichtungen der modernen Staten sind dieser Einsicht zu verdanken. Die moderne Aus- bildung der Privatfreiheit und vor allen Dingen der indivi- duellen Geistesfreiheit ist nur von dieser Grundansicht aus zu erklären, welche hauptsächlich durch das Christenthum für das religiöse Leben und durch den germanischen Rechtssinn für das ganze persönliche Rechtsleben begründet und ver- breitet worden ist. Aber trotz alledem ist es ein logischer und politischer Fehler, zu meinen, der Stat sei nur um der Privatper- sonen willen da, die Statsverwaltung habe nur für die all- gemeine Privatwohlfahrt zu sorgen. Der ganze Stat

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/366
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/366>, abgerufen am 25.11.2024.