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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. II. Secundäre.
eigenen bundesmäszigen oder nationalen Organe hervorgebracht,
welche nur der Gesammtheit angehören. Der achäische Bund
mit seiner gemeinsamen Volksversammlung als gesetzgeben-
dem Körper, dem Bundesstrategen als dem Bundeshaupte,
dem Bundesrathe und dem Bundesgerichte war schon einiger-
maszen ein solcher Bundesstat. Zuerst ist diese Statsform
als eine moderne in den Vereinigten Staten von Nordamerika,
aber erst in der Unionsverfassung von 1787 ausgebildet und
dann von der Schweiz in der Bundesverfassung von 1848
nachgebildet worden. Beide Verfassungen beruhen nicht mehr
auf einem eigentlichen Statenvertrage, sondern setzen in
der Idee die Existenz eines Gesammtvolkes und eines Ge-
sammtstates
voraus, deren einheitlicher Wille die Ver-
fassung schafft, und von der Minderheit -- auch der Einzel-
staten -- Gehorsam fordert. Dadurch wird die Vorstufe der
Conföderation von Staten überschritten und die höhere Stufe
der Föderation oder Union betreten. 1

3. Beide Formen der zusammengesetzten Statenbildung
sind eher für Republiken als für Monarchien geeignet, wovon
man sich leicht überzeugt, wenn man die Geschichte der nord-
amerikanischen und der schweizerischen Bundesverfassung mit
den Kämpfen über die deutsche Bundesreform vergleicht.

Die Verfassung des norddeutschen Bundes von 1867
und die Verfassung des deutschen Reiches von 1871 einigt
zwar thatsächlich und rechtlich die verschiedenen in Deutsch-
land wirksamen politischen Mächte und Kräfte zu nationalem
Zusammenwirken, aber sie macht der principiellen Betrach-
tung den Eindruck eines Schmetterlings, der noch einen Theil
seiner Puppe und selbst die Reste seines frühern Raupenzu-
stands mitschleppt. Ihre Entstehungsform weist einerseits
auf den freien Vertrag aller Einzelstaten (Fürsten und Kam-

1 Vgl. darüber besonders den "Federatif" von Hamilton u. Madison,
und Story's Comm.; Bluntschli, Gesch. d. schweiz. Bundesr. I. S. 352;
Waitz Politik 1862.

Drittes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. II. Secundäre.
eigenen bundesmäszigen oder nationalen Organe hervorgebracht,
welche nur der Gesammtheit angehören. Der achäische Bund
mit seiner gemeinsamen Volksversammlung als gesetzgeben-
dem Körper, dem Bundesstrategen als dem Bundeshaupte,
dem Bundesrathe und dem Bundesgerichte war schon einiger-
maszen ein solcher Bundesstat. Zuerst ist diese Statsform
als eine moderne in den Vereinigten Staten von Nordamerika,
aber erst in der Unionsverfassung von 1787 ausgebildet und
dann von der Schweiz in der Bundesverfassung von 1848
nachgebildet worden. Beide Verfassungen beruhen nicht mehr
auf einem eigentlichen Statenvertrage, sondern setzen in
der Idee die Existenz eines Gesammtvolkes und eines Ge-
sammtstates
voraus, deren einheitlicher Wille die Ver-
fassung schafft, und von der Minderheit — auch der Einzel-
staten — Gehorsam fordert. Dadurch wird die Vorstufe der
Conföderation von Staten überschritten und die höhere Stufe
der Föderation oder Union betreten. 1

3. Beide Formen der zusammengesetzten Statenbildung
sind eher für Republiken als für Monarchien geeignet, wovon
man sich leicht überzeugt, wenn man die Geschichte der nord-
amerikanischen und der schweizerischen Bundesverfassung mit
den Kämpfen über die deutsche Bundesreform vergleicht.

Die Verfassung des norddeutschen Bundes von 1867
und die Verfassung des deutschen Reiches von 1871 einigt
zwar thatsächlich und rechtlich die verschiedenen in Deutsch-
land wirksamen politischen Mächte und Kräfte zu nationalem
Zusammenwirken, aber sie macht der principiellen Betrach-
tung den Eindruck eines Schmetterlings, der noch einen Theil
seiner Puppe und selbst die Reste seines frühern Raupenzu-
stands mitschleppt. Ihre Entstehungsform weist einerseits
auf den freien Vertrag aller Einzelstaten (Fürsten und Kam-

1 Vgl. darüber besonders den „Féderatif“ von Hamilton u. Madison,
und Story's Comm.; Bluntschli, Gesch. d. schweiz. Bundesr. I. S. 352;
Waitz Politik 1862.
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[309/0327] Drittes Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. II. Secundäre. eigenen bundesmäszigen oder nationalen Organe hervorgebracht, welche nur der Gesammtheit angehören. Der achäische Bund mit seiner gemeinsamen Volksversammlung als gesetzgeben- dem Körper, dem Bundesstrategen als dem Bundeshaupte, dem Bundesrathe und dem Bundesgerichte war schon einiger- maszen ein solcher Bundesstat. Zuerst ist diese Statsform als eine moderne in den Vereinigten Staten von Nordamerika, aber erst in der Unionsverfassung von 1787 ausgebildet und dann von der Schweiz in der Bundesverfassung von 1848 nachgebildet worden. Beide Verfassungen beruhen nicht mehr auf einem eigentlichen Statenvertrage, sondern setzen in der Idee die Existenz eines Gesammtvolkes und eines Ge- sammtstates voraus, deren einheitlicher Wille die Ver- fassung schafft, und von der Minderheit — auch der Einzel- staten — Gehorsam fordert. Dadurch wird die Vorstufe der Conföderation von Staten überschritten und die höhere Stufe der Föderation oder Union betreten. 1 3. Beide Formen der zusammengesetzten Statenbildung sind eher für Republiken als für Monarchien geeignet, wovon man sich leicht überzeugt, wenn man die Geschichte der nord- amerikanischen und der schweizerischen Bundesverfassung mit den Kämpfen über die deutsche Bundesreform vergleicht. Die Verfassung des norddeutschen Bundes von 1867 und die Verfassung des deutschen Reiches von 1871 einigt zwar thatsächlich und rechtlich die verschiedenen in Deutsch- land wirksamen politischen Mächte und Kräfte zu nationalem Zusammenwirken, aber sie macht der principiellen Betrach- tung den Eindruck eines Schmetterlings, der noch einen Theil seiner Puppe und selbst die Reste seines frühern Raupenzu- stands mitschleppt. Ihre Entstehungsform weist einerseits auf den freien Vertrag aller Einzelstaten (Fürsten und Kam- 1 Vgl. darüber besonders den „Féderatif“ von Hamilton u. Madison, und Story's Comm.; Bluntschli, Gesch. d. schweiz. Bundesr. I. S. 352; Waitz Politik 1862.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/327>, abgerufen am 04.05.2024.