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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Sein Streben nach dem Besitze von Konstantinopel.
land, sondern auch gegen seine eignen Unterthanen zu garantiren,
so würde das ein Angebot sein, in dem eine erhebliche Versuchung
zur Annahme liegt. Setzen wir aber den Fall, daß der Sultan
aus eignem oder auf fremden Antrieb die russische Insinuation
zurückweist, so kann die neue Schwarze-Meer-Flotte die Bestimmung
haben, auch vor entschiedener Sache sich der Stellung am Bosporus
zu bemächtigen, deren Rußland zu bedürfen glaubt, um in den
Besitz seines Hausschlüssels zu gelangen.

Wie auch diese Phase der von mir vorausgesetzten russischen
Politik verlaufen mag, so wird aus derselben immer die Situation
entstehn, daß Rußland wie im Juli 1853 ein Pfand nimmt
und abwartet, ob man und wer es ihm wieder abnehmen werde.
Der erste Schritt der russischen Diplomatie nach diesen seit lange
vorbereiteten Operationen würde vielleicht eine vorsichtige Sondirung
in Berlin sein, bezüglich der Frage, ob Oestreich oder England,
wenn sie sich dem russischen Vorgehn kriegerisch widersetzten, auf
die Unterstützung Deutschlands rechnen könnten. Diese Frage würde
meiner Ueberzeugung nach unbedingt zu verneinen sein. Ich glaube,
daß es für Deutschland nützlich sein würde, wenn die Russen auf
dem einen oder andern Wege, physisch oder diplomatisch, sich in
Konstantinopel festgesetzt und dasselbe zu vertheidigen hätten. Wir
würden dann nicht mehr in der Lage sein, von England und
gelegentlich auch von Oestreich als Hetzhund gegen russische Bos¬
porus-Gelüste ausgebeutet zu werden, sondern abwarten können, ob
Oestreich angegriffen wird und damit unser casus belli eintritt.

Auch für die östreichische Politik wäre es richtiger, sich den
Wirkungen des ungarischen Chauvinismus so lange zu entziehn,
bis Rußland eine Position am Bosporus eingenommen und dadurch
seine Frictionen mit den Mittelmeerstaaten, also mit England und
selbst mit Italien und Frankreich, erheblich verschärft und sein Be¬
dürfniß, sich mit Oestreich a l'amiable zu verständigen, gesteigert
hätte. Wenn ich östreichischer Minister wäre, so würde ich die
Russen nicht hindern, nach Konstantinopel zu gehn, aber eine Ver¬

Sein Streben nach dem Beſitze von Konſtantinopel.
land, ſondern auch gegen ſeine eignen Unterthanen zu garantiren,
ſo würde das ein Angebot ſein, in dem eine erhebliche Verſuchung
zur Annahme liegt. Setzen wir aber den Fall, daß der Sultan
aus eignem oder auf fremden Antrieb die ruſſiſche Inſinuation
zurückweiſt, ſo kann die neue Schwarze-Meer-Flotte die Beſtimmung
haben, auch vor entſchiedener Sache ſich der Stellung am Bosporus
zu bemächtigen, deren Rußland zu bedürfen glaubt, um in den
Beſitz ſeines Hausſchlüſſels zu gelangen.

Wie auch dieſe Phaſe der von mir vorausgeſetzten ruſſiſchen
Politik verlaufen mag, ſo wird aus derſelben immer die Situation
entſtehn, daß Rußland wie im Juli 1853 ein Pfand nimmt
und abwartet, ob man und wer es ihm wieder abnehmen werde.
Der erſte Schritt der ruſſiſchen Diplomatie nach dieſen ſeit lange
vorbereiteten Operationen würde vielleicht eine vorſichtige Sondirung
in Berlin ſein, bezüglich der Frage, ob Oeſtreich oder England,
wenn ſie ſich dem ruſſiſchen Vorgehn kriegeriſch widerſetzten, auf
die Unterſtützung Deutſchlands rechnen könnten. Dieſe Frage würde
meiner Ueberzeugung nach unbedingt zu verneinen ſein. Ich glaube,
daß es für Deutſchland nützlich ſein würde, wenn die Ruſſen auf
dem einen oder andern Wege, phyſiſch oder diplomatiſch, ſich in
Konſtantinopel feſtgeſetzt und daſſelbe zu vertheidigen hätten. Wir
würden dann nicht mehr in der Lage ſein, von England und
gelegentlich auch von Oeſtreich als Hetzhund gegen ruſſiſche Bos¬
porus-Gelüſte ausgebeutet zu werden, ſondern abwarten können, ob
Oeſtreich angegriffen wird und damit unſer casus belli eintritt.

Auch für die öſtreichiſche Politik wäre es richtiger, ſich den
Wirkungen des ungariſchen Chauvinismus ſo lange zu entziehn,
bis Rußland eine Poſition am Bosporus eingenommen und dadurch
ſeine Frictionen mit den Mittelmeerſtaaten, alſo mit England und
ſelbſt mit Italien und Frankreich, erheblich verſchärft und ſein Be¬
dürfniß, ſich mit Oeſtreich à l'amiable zu verſtändigen, geſteigert
hätte. Wenn ich öſtreichiſcher Miniſter wäre, ſo würde ich die
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[263/0287] Sein Streben nach dem Beſitze von Konſtantinopel. land, ſondern auch gegen ſeine eignen Unterthanen zu garantiren, ſo würde das ein Angebot ſein, in dem eine erhebliche Verſuchung zur Annahme liegt. Setzen wir aber den Fall, daß der Sultan aus eignem oder auf fremden Antrieb die ruſſiſche Inſinuation zurückweiſt, ſo kann die neue Schwarze-Meer-Flotte die Beſtimmung haben, auch vor entſchiedener Sache ſich der Stellung am Bosporus zu bemächtigen, deren Rußland zu bedürfen glaubt, um in den Beſitz ſeines Hausſchlüſſels zu gelangen. Wie auch dieſe Phaſe der von mir vorausgeſetzten ruſſiſchen Politik verlaufen mag, ſo wird aus derſelben immer die Situation entſtehn, daß Rußland wie im Juli 1853 ein Pfand nimmt und abwartet, ob man und wer es ihm wieder abnehmen werde. Der erſte Schritt der ruſſiſchen Diplomatie nach dieſen ſeit lange vorbereiteten Operationen würde vielleicht eine vorſichtige Sondirung in Berlin ſein, bezüglich der Frage, ob Oeſtreich oder England, wenn ſie ſich dem ruſſiſchen Vorgehn kriegeriſch widerſetzten, auf die Unterſtützung Deutſchlands rechnen könnten. Dieſe Frage würde meiner Ueberzeugung nach unbedingt zu verneinen ſein. Ich glaube, daß es für Deutſchland nützlich ſein würde, wenn die Ruſſen auf dem einen oder andern Wege, phyſiſch oder diplomatiſch, ſich in Konſtantinopel feſtgeſetzt und daſſelbe zu vertheidigen hätten. Wir würden dann nicht mehr in der Lage ſein, von England und gelegentlich auch von Oeſtreich als Hetzhund gegen ruſſiſche Bos¬ porus-Gelüſte ausgebeutet zu werden, ſondern abwarten können, ob Oeſtreich angegriffen wird und damit unſer casus belli eintritt. Auch für die öſtreichiſche Politik wäre es richtiger, ſich den Wirkungen des ungariſchen Chauvinismus ſo lange zu entziehn, bis Rußland eine Poſition am Bosporus eingenommen und dadurch ſeine Frictionen mit den Mittelmeerſtaaten, alſo mit England und ſelbſt mit Italien und Frankreich, erheblich verſchärft und ſein Be¬ dürfniß, ſich mit Oeſtreich à l'amiable zu verſtändigen, geſteigert hätte. Wenn ich öſtreichiſcher Miniſter wäre, ſo würde ich die Ruſſen nicht hindern, nach Konſtantinopel zu gehn, aber eine Ver¬

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/287>, abgerufen am 22.11.2024.