Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands. Daß die Pforte auf ein russisches Protectorat in dieser Formeingehe, liegt nicht nur in der Möglichkeit, sondern, wenn die Sache geschickt betrieben wird, auch in der Wahrscheinlichkeit. Der Sultan hat in frühern Jahrzehnten glauben können, daß die Eifersucht der europäischen Mächte ihm gegen Rußland Garantien gewähre. Für England und Oestreich war es eine traditionelle Politik, die Türkei zu erhalten; aber die Gladstoneschen Kund¬ gebungen haben dem Sultan diesen Rückhalt entzogen, nicht nur in London, sondern auch in Wien, denn man kann nicht an¬ nehmen, daß das Wiener Cabinet die Traditionen der Metter¬ nichschen Zeit (Ypsilanti, Feindschaft gegen die Befreiung Griechen¬ lands) hätte in Reichstadt fallen lassen, wenn es der englischen Unterstützung sicher geblieben wäre. Der Bann der Dankbarkeit gegen den Kaiser Nicolaus war bereits durch Buol während des Krimkrieges gebrochen, und auf dem Pariser Congresse war die Haltung Oestreichs um so deutlicher in die alte Metternichsche Richtung zurückgetreten, als sie nicht durch die finanziellen Be¬ ziehungen jenes Staatsmannes zum russischen Kaiser gemildert, vielmehr durch Kränkung der Eitelkeit des Grafen Buol verschärft war. Das Oestreich von 1856 würde ohne die zersetzende Wir¬ kung ungeschickter englischer Politik selbst um den Preis Bosniens sich weder von England noch von der Pforte losgesagt haben. So wie die Sachen aber heut liegen, ist es nicht wahrscheinlich, daß der Sultan von England oder Oestreich noch so viel Bei¬ stand und Schutz erwartet, wie ihm Rußland, ohne eigne Interessen Preis zu geben, zusagen und vermöge seiner Nachbarschaft erfolg¬ reich gewähren kann. Wenn Rußland, nachdem es hinreichend fertig ist, um den Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands. Daß die Pforte auf ein ruſſiſches Protectorat in dieſer Formeingehe, liegt nicht nur in der Möglichkeit, ſondern, wenn die Sache geſchickt betrieben wird, auch in der Wahrſcheinlichkeit. Der Sultan hat in frühern Jahrzehnten glauben können, daß die Eiferſucht der europäiſchen Mächte ihm gegen Rußland Garantien gewähre. Für England und Oeſtreich war es eine traditionelle Politik, die Türkei zu erhalten; aber die Gladſtoneſchen Kund¬ gebungen haben dem Sultan dieſen Rückhalt entzogen, nicht nur in London, ſondern auch in Wien, denn man kann nicht an¬ nehmen, daß das Wiener Cabinet die Traditionen der Metter¬ nichſchen Zeit (Ypſilanti, Feindſchaft gegen die Befreiung Griechen¬ lands) hätte in Reichſtadt fallen laſſen, wenn es der engliſchen Unterſtützung ſicher geblieben wäre. Der Bann der Dankbarkeit gegen den Kaiſer Nicolaus war bereits durch Buol während des Krimkrieges gebrochen, und auf dem Pariſer Congreſſe war die Haltung Oeſtreichs um ſo deutlicher in die alte Metternichſche Richtung zurückgetreten, als ſie nicht durch die finanziellen Be¬ ziehungen jenes Staatsmannes zum ruſſiſchen Kaiſer gemildert, vielmehr durch Kränkung der Eitelkeit des Grafen Buol verſchärft war. Das Oeſtreich von 1856 würde ohne die zerſetzende Wir¬ kung ungeſchickter engliſcher Politik ſelbſt um den Preis Bosniens ſich weder von England noch von der Pforte losgeſagt haben. So wie die Sachen aber heut liegen, iſt es nicht wahrſcheinlich, daß der Sultan von England oder Oeſtreich noch ſo viel Bei¬ ſtand und Schutz erwartet, wie ihm Rußland, ohne eigne Intereſſen Preis zu geben, zuſagen und vermöge ſeiner Nachbarſchaft erfolg¬ reich gewähren kann. 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Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
Daß die Pforte auf ein ruſſiſches Protectorat in dieſer Form
eingehe, liegt nicht nur in der Möglichkeit, ſondern, wenn die
Sache geſchickt betrieben wird, auch in der Wahrſcheinlichkeit. Der
Sultan hat in frühern Jahrzehnten glauben können, daß die
Eiferſucht der europäiſchen Mächte ihm gegen Rußland Garantien
gewähre. Für England und Oeſtreich war es eine traditionelle
Politik, die Türkei zu erhalten; aber die Gladſtoneſchen Kund¬
gebungen haben dem Sultan dieſen Rückhalt entzogen, nicht nur
in London, ſondern auch in Wien, denn man kann nicht an¬
nehmen, daß das Wiener Cabinet die Traditionen der Metter¬
nichſchen Zeit (Ypſilanti, Feindſchaft gegen die Befreiung Griechen¬
lands) hätte in Reichſtadt fallen laſſen, wenn es der engliſchen
Unterſtützung ſicher geblieben wäre. Der Bann der Dankbarkeit
gegen den Kaiſer Nicolaus war bereits durch Buol während
des Krimkrieges gebrochen, und auf dem Pariſer Congreſſe war
die Haltung Oeſtreichs um ſo deutlicher in die alte Metternichſche
Richtung zurückgetreten, als ſie nicht durch die finanziellen Be¬
ziehungen jenes Staatsmannes zum ruſſiſchen Kaiſer gemildert,
vielmehr durch Kränkung der Eitelkeit des Grafen Buol verſchärft
war. Das Oeſtreich von 1856 würde ohne die zerſetzende Wir¬
kung ungeſchickter engliſcher Politik ſelbſt um den Preis Bosniens
ſich weder von England noch von der Pforte losgeſagt haben.
So wie die Sachen aber heut liegen, iſt es nicht wahrſcheinlich,
daß der Sultan von England oder Oeſtreich noch ſo viel Bei¬
ſtand und Schutz erwartet, wie ihm Rußland, ohne eigne Intereſſen
Preis zu geben, zuſagen und vermöge ſeiner Nachbarſchaft erfolg¬
reich gewähren kann.
Wenn Rußland, nachdem es hinreichend fertig iſt, um den
Sultan und den Bosporus nöthigenfalls militäriſch zu Waſſer und
zu Lande überzulaufen, dem Sultan perſönlich und vertraulich vor¬
ſchlägt, gegen Bewilligung einer ausreichenden Befeſtigung und
Truppenzahl am nördlichen Eingang des Bosporus ihm ſeine
Stellung im Serail und alle Provinzen nicht nur gegen das Aus¬
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