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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Zweiundzwanzigstes Kapitel: Die Emser Depesche.
Niedergeschlagenheit so tief wurde, daß sie Speise und Trank ver¬
schmähten. Bei wiederholter Prüfung des Actenstücks verweilte ich
bei der einen Auftrag involvirenden Ermächtigung Seiner Maje¬
stät, die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung so¬
gleich sowohl unsern Gesandten als in der Presse mitzutheilen.
Ich stellte an Moltke einige Fragen in Bezug auf das Maß seines
Vertrauens auf den Stand unsrer Rüstungen, respective auf die
Zeit, deren dieselben bei der überraschend aufgetauchten Kriegsgefahr
noch bedürfen würden. Er antwortete, daß er, wenn Krieg werden
sollte, von einem Aufschub des Ausbruchs keinen Vortheil für uns
erwarte; selbst wenn wir zunächst nicht stark genug sein sollten,
sofort alle linksrheinischen Landestheile gegen französische Invasion
zu decken, so würde unsre Kriegsbereitschaft die französische sehr
bald überholen, während in einer spätern Periode dieser Vortheil
sich abschwächen würde; er halte den schnellen Ausbruch im Ganzen
für uns vortheilhafter als eine Verschleppung.

Der Haltung Frankreichs gegenüber zwang uns nach meiner
Ansicht das nationale Ehrgefühl zum Kriege, und wenn wir den
Forderungen dieses Gefühls nicht gerecht wurden, so verloren wir
auf dem Wege zur Vollendung unsrer nationalen Entwicklung den
ganzen 1866 gewonnenen Vorsprung, und das 1866 durch unsre
militärischen Erfolge gesteigerte deutsche Nationalgefühl südlich des
Mains, wie es sich in der Bereitwilligkeit der Südstaaten zu den
Bündnissen ausgesprochen hatte, mußte wieder erkalten. Das in den
süddeutschen Staaten neben dem particularistischen und dynastischen
Staatsgefühle lebendige Deutschthum hatte bis 1866 das politische Be¬
wußtsein gewissermaßen mit der gesammtdeutschen Fiction unter Oest¬

nur durch einen Adjutanten sagen zu lassen: daß Seine Majestät jetzt vom
Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris schon
gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe. Seine Majestät
stellt Eurer Excellenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedetti's und ihre
Zurückweisung sogleich sowohl unsern Gesandten als in der Presse mitgetheilt
werden sollte."

Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche.
Niedergeſchlagenheit ſo tief wurde, daß ſie Speiſe und Trank ver¬
ſchmähten. Bei wiederholter Prüfung des Actenſtücks verweilte ich
bei der einen Auftrag involvirenden Ermächtigung Seiner Maje¬
ſtät, die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweiſung ſo¬
gleich ſowohl unſern Geſandten als in der Preſſe mitzutheilen.
Ich ſtellte an Moltke einige Fragen in Bezug auf das Maß ſeines
Vertrauens auf den Stand unſrer Rüſtungen, reſpective auf die
Zeit, deren dieſelben bei der überraſchend aufgetauchten Kriegsgefahr
noch bedürfen würden. Er antwortete, daß er, wenn Krieg werden
ſollte, von einem Aufſchub des Ausbruchs keinen Vortheil für uns
erwarte; ſelbſt wenn wir zunächſt nicht ſtark genug ſein ſollten,
ſofort alle linksrheiniſchen Landestheile gegen franzöſiſche Invaſion
zu decken, ſo würde unſre Kriegsbereitſchaft die franzöſiſche ſehr
bald überholen, während in einer ſpätern Periode dieſer Vortheil
ſich abſchwächen würde; er halte den ſchnellen Ausbruch im Ganzen
für uns vortheilhafter als eine Verſchleppung.

Der Haltung Frankreichs gegenüber zwang uns nach meiner
Anſicht das nationale Ehrgefühl zum Kriege, und wenn wir den
Forderungen dieſes Gefühls nicht gerecht wurden, ſo verloren wir
auf dem Wege zur Vollendung unſrer nationalen Entwicklung den
ganzen 1866 gewonnenen Vorſprung, und das 1866 durch unſre
militäriſchen Erfolge geſteigerte deutſche Nationalgefühl ſüdlich des
Mains, wie es ſich in der Bereitwilligkeit der Südſtaaten zu den
Bündniſſen ausgeſprochen hatte, mußte wieder erkalten. Das in den
ſüddeutſchen Staaten neben dem particulariſtiſchen und dynaſtiſchen
Staatsgefühle lebendige Deutſchthum hatte bis 1866 das politiſche Be¬
wußtſein gewiſſermaßen mit der geſammtdeutſchen Fiction unter Oeſt¬

nur durch einen Adjutanten ſagen zu laſſen: daß Seine Majeſtät jetzt vom
Fürſten die Beſtätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris ſchon
gehabt, und dem Botſchafter nichts weiter zu ſagen habe. Seine Majeſtät
ſtellt Eurer Excellenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedetti's und ihre
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[88/0112] Zweiundzwanzigſtes Kapitel: Die Emſer Depeſche. Niedergeſchlagenheit ſo tief wurde, daß ſie Speiſe und Trank ver¬ ſchmähten. Bei wiederholter Prüfung des Actenſtücks verweilte ich bei der einen Auftrag involvirenden Ermächtigung Seiner Maje¬ ſtät, die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweiſung ſo¬ gleich ſowohl unſern Geſandten als in der Preſſe mitzutheilen. Ich ſtellte an Moltke einige Fragen in Bezug auf das Maß ſeines Vertrauens auf den Stand unſrer Rüſtungen, reſpective auf die Zeit, deren dieſelben bei der überraſchend aufgetauchten Kriegsgefahr noch bedürfen würden. Er antwortete, daß er, wenn Krieg werden ſollte, von einem Aufſchub des Ausbruchs keinen Vortheil für uns erwarte; ſelbſt wenn wir zunächſt nicht ſtark genug ſein ſollten, ſofort alle linksrheiniſchen Landestheile gegen franzöſiſche Invaſion zu decken, ſo würde unſre Kriegsbereitſchaft die franzöſiſche ſehr bald überholen, während in einer ſpätern Periode dieſer Vortheil ſich abſchwächen würde; er halte den ſchnellen Ausbruch im Ganzen für uns vortheilhafter als eine Verſchleppung. Der Haltung Frankreichs gegenüber zwang uns nach meiner Anſicht das nationale Ehrgefühl zum Kriege, und wenn wir den Forderungen dieſes Gefühls nicht gerecht wurden, ſo verloren wir auf dem Wege zur Vollendung unſrer nationalen Entwicklung den ganzen 1866 gewonnenen Vorſprung, und das 1866 durch unſre militäriſchen Erfolge geſteigerte deutſche Nationalgefühl ſüdlich des Mains, wie es ſich in der Bereitwilligkeit der Südſtaaten zu den Bündniſſen ausgeſprochen hatte, mußte wieder erkalten. Das in den ſüddeutſchen Staaten neben dem particulariſtiſchen und dynaſtiſchen Staatsgefühle lebendige Deutſchthum hatte bis 1866 das politiſche Be¬ wußtſein gewiſſermaßen mit der geſammtdeutſchen Fiction unter Oeſt¬ 1) 1) nur durch einen Adjutanten ſagen zu laſſen: daß Seine Majeſtät jetzt vom Fürſten die Beſtätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris ſchon gehabt, und dem Botſchafter nichts weiter zu ſagen habe. Seine Majeſtät ſtellt Eurer Excellenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedetti's und ihre Zurückweiſung ſogleich ſowohl unſern Geſandten als in der Preſſe mitgetheilt werden ſollte.“

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/112>, abgerufen am 23.11.2024.