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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Radowitz als Garderobier der Phantasie Friedrich Wilhelms IV.
mittelalterlichen Phantasie des Königs machte und dazu beitrug,
daß der König über historische Formfragen und reichsgeschichtliche
Erinnerungen die Gelegenheiten zu praktischem Eingreifen in die
Entwicklung der Gegenwart versäumte. Das tempus utile für
Einrichtung des Dreikönigsbundes wurde dilatorisch mit neben¬
sächlichen Formfragen ausgefüllt, bis Oestreich wieder stark genug
war, um Sachsen und Hanover zum Rücktritt zu vermögen, so
daß beide Mitbegründer dieses Dreibundes in Erfurt ausfielen.
Während des Erfurter Parlaments, in einer von dem General von
Pfuel geladenen Gesellschaft, kamen vertrauliche Nachrichten einiger
Abgeordneten zur Sprache über die Stärke der östreichischen Armee,
die sich in Böhmen sammelte und dem Parlament als Gegen¬
gewicht und Correctiv dienen sollte. Es wurden verschiedene Zahlen,
80000 und 130000 Mann angegeben. Radowitz hörte eine Zeit
lang ruhig zu und sagte dann mit dem ihm eignen Ausdruck
unwiderleglicher Gewißheit auf seinen regelmäßigen Zügen in ent¬
scheidendem Tone: "Oestreich hat in Böhmen 28254 Mann und
7132 Pferde." Die Tausende, die er angab, sind mir obiter in
Erinnerung, die übrigen Ziffern setze ich nach Gutdünken hinzu,
nur um die erdrückende Genauigkeit der Angaben des Generals
anschaulich zu machen. Natürlich brachten diese Zahlen aus dem
Munde des amtlichen und competenten Vertreters der preußischen
Regirung einstweilen jede abweichende Meinung zum Schweigen.
Wie stark die östreichische Armee im Frühjahr 1850 in Böhmen
gewesen ist, wird heut wohl feststehn; daß sie zur Olmützer Zeit er¬
heblich mehr als 100000 Mann betrug, habe ich annehmen müssen

gerechnet, und hält sich so seiner Sache gewiß. 2) Der König hält seine
Minister und auch mich für Rindvieh, schon darum, weil jene mit ihm currente
und praktische Geschäfte abmachen müssen, welche nie seinen Ideen entsprechen.
Er traut sich nicht die Fähigkeit zu, diese Minister sich folgsam zu machen, auch
nicht die, andre zu finden, er giebt also diesen Weg auf und glaubt, in Radowitz
einen gefunden zu haben, von Deutschland aus Preußen zu restauriren, wie
das Radowitz in ,Deutschland und Friedrich Wilhelm IV.' geradezu eingesteht."
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 5

Radowitz als Garderobier der Phantaſie Friedrich Wilhelms IV.
mittelalterlichen Phantaſie des Königs machte und dazu beitrug,
daß der König über hiſtoriſche Formfragen und reichsgeſchichtliche
Erinnerungen die Gelegenheiten zu praktiſchem Eingreifen in die
Entwicklung der Gegenwart verſäumte. Das tempus utile für
Einrichtung des Dreikönigsbundes wurde dilatoriſch mit neben¬
ſächlichen Formfragen ausgefüllt, bis Oeſtreich wieder ſtark genug
war, um Sachſen und Hanover zum Rücktritt zu vermögen, ſo
daß beide Mitbegründer dieſes Dreibundes in Erfurt ausfielen.
Während des Erfurter Parlaments, in einer von dem General von
Pfuel geladenen Geſellſchaft, kamen vertrauliche Nachrichten einiger
Abgeordneten zur Sprache über die Stärke der öſtreichiſchen Armee,
die ſich in Böhmen ſammelte und dem Parlament als Gegen¬
gewicht und Correctiv dienen ſollte. Es wurden verſchiedene Zahlen,
80000 und 130000 Mann angegeben. Radowitz hörte eine Zeit
lang ruhig zu und ſagte dann mit dem ihm eignen Ausdruck
unwiderleglicher Gewißheit auf ſeinen regelmäßigen Zügen in ent¬
ſcheidendem Tone: „Oeſtreich hat in Böhmen 28254 Mann und
7132 Pferde.“ Die Tauſende, die er angab, ſind mir obiter in
Erinnerung, die übrigen Ziffern ſetze ich nach Gutdünken hinzu,
nur um die erdrückende Genauigkeit der Angaben des Generals
anſchaulich zu machen. Natürlich brachten dieſe Zahlen aus dem
Munde des amtlichen und competenten Vertreters der preußiſchen
Regirung einſtweilen jede abweichende Meinung zum Schweigen.
Wie ſtark die öſtreichiſche Armee im Frühjahr 1850 in Böhmen
geweſen iſt, wird heut wohl feſtſtehn; daß ſie zur Olmützer Zeit er¬
heblich mehr als 100000 Mann betrug, habe ich annehmen müſſen

gerechnet, und hält ſich ſo ſeiner Sache gewiß. 2) Der König hält ſeine
Miniſter und auch mich für Rindvieh, ſchon darum, weil jene mit ihm currente
und praktiſche Geſchäfte abmachen müſſen, welche nie ſeinen Ideen entſprechen.
Er traut ſich nicht die Fähigkeit zu, dieſe Miniſter ſich folgſam zu machen, auch
nicht die, andre zu finden, er giebt alſo dieſen Weg auf und glaubt, in Radowitz
einen gefunden zu haben, von Deutſchland aus Preußen zu reſtauriren, wie
das Radowitz in ,Deutſchland und Friedrich Wilhelm IV.‘ geradezu eingeſteht.“
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[65/0092] Radowitz als Garderobier der Phantaſie Friedrich Wilhelms IV. mittelalterlichen Phantaſie des Königs machte und dazu beitrug, daß der König über hiſtoriſche Formfragen und reichsgeſchichtliche Erinnerungen die Gelegenheiten zu praktiſchem Eingreifen in die Entwicklung der Gegenwart verſäumte. Das tempus utile für Einrichtung des Dreikönigsbundes wurde dilatoriſch mit neben¬ ſächlichen Formfragen ausgefüllt, bis Oeſtreich wieder ſtark genug war, um Sachſen und Hanover zum Rücktritt zu vermögen, ſo daß beide Mitbegründer dieſes Dreibundes in Erfurt ausfielen. Während des Erfurter Parlaments, in einer von dem General von Pfuel geladenen Geſellſchaft, kamen vertrauliche Nachrichten einiger Abgeordneten zur Sprache über die Stärke der öſtreichiſchen Armee, die ſich in Böhmen ſammelte und dem Parlament als Gegen¬ gewicht und Correctiv dienen ſollte. Es wurden verſchiedene Zahlen, 80000 und 130000 Mann angegeben. Radowitz hörte eine Zeit lang ruhig zu und ſagte dann mit dem ihm eignen Ausdruck unwiderleglicher Gewißheit auf ſeinen regelmäßigen Zügen in ent¬ ſcheidendem Tone: „Oeſtreich hat in Böhmen 28254 Mann und 7132 Pferde.“ Die Tauſende, die er angab, ſind mir obiter in Erinnerung, die übrigen Ziffern ſetze ich nach Gutdünken hinzu, nur um die erdrückende Genauigkeit der Angaben des Generals anſchaulich zu machen. Natürlich brachten dieſe Zahlen aus dem Munde des amtlichen und competenten Vertreters der preußiſchen Regirung einſtweilen jede abweichende Meinung zum Schweigen. Wie ſtark die öſtreichiſche Armee im Frühjahr 1850 in Böhmen geweſen iſt, wird heut wohl feſtſtehn; daß ſie zur Olmützer Zeit er¬ heblich mehr als 100000 Mann betrug, habe ich annehmen müſſen *) *) gerechnet, und hält ſich ſo ſeiner Sache gewiß. 2) Der König hält ſeine Miniſter und auch mich für Rindvieh, ſchon darum, weil jene mit ihm currente und praktiſche Geſchäfte abmachen müſſen, welche nie ſeinen Ideen entſprechen. Er traut ſich nicht die Fähigkeit zu, dieſe Miniſter ſich folgſam zu machen, auch nicht die, andre zu finden, er giebt alſo dieſen Weg auf und glaubt, in Radowitz einen gefunden zu haben, von Deutſchland aus Preußen zu reſtauriren, wie das Radowitz in ,Deutſchland und Friedrich Wilhelm IV.‘ geradezu eingeſteht.“ Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 5

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/92>, abgerufen am 10.05.2024.