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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebensche Convention.
der russischen Politik war dazu angethan, die seit dem Pariser
Frieden und schon früher gelegentlich angestrebte russisch-französische
Fühlung zu beleben, und ein polenfreundliches, russisch-französisches
Bündniß, wie es vor der Julirevolution in der Luft schwebte, hätte
das damalige Preußen in eine schwierige Lage gebracht. Wir hatten
das Interesse, im russischen Cabinet die Partei der polnischen
Sympathien, auch solcher im Sinne Alexanders I., zu bekämpfen.
Daß Rußland selbst keine Sicherheit gegen die polnische Verbrüde¬
rung gewährte, konnte ich aus den vertraulichen Gesprächen ent¬
nehmen, die ich theils mit Gortschakow, theils mit dem Kaiser
selbst hatte. Kaiser Alexander war damals nicht abgeneigt, Polen
theilweis aufzugeben; er hat mir das mit dürren Worten gesagt,
wenigstens mit Bezug auf das linke Weichselufer, indem er, ohne
Accent darauf zu legen, Warschau ausnahm, das immerhin als
Garnison in der Armee seinen Reiz hätte und strategisch zu dem
Festungsdreieck an der Weichsel gehörte, Polen wäre eine Quelle
von Unruhe und europäischen Gefahren für Rußland, die Russifi¬
cirung sei nicht durchführbar wegen der confessionellen Verschieden¬
heit und wegen des Mangels an administrativer Befähigung der
russischen Organe. Bei uns gelinge es, das polnische Gebiet zu
germanisiren (?), wir hätten die Mittel dazu, weil die deutsche Be¬
völkerung gebildeter sei als die polnische. Der Russe fühle nicht
die nöthige Ueberlegenheit, um die Polen zu beherrschen, man
müsse sich auf das Minimum polnischer Bevölkerung beschränken,
welches die geographische Lage zulasse, also auf die Weichselgrenze
und Warschau als Brückenkopf.

Ich kann nicht darüber urtheilen, in wie weit diese Darlegung
des Kaisers reiflich erwogen war. Mit Staatsmännern besprochen
wird sie gewesen sein, denn eine ganz selbständige, persönliche,
politische Initiative mir gegenüber habe ich vom Kaiser nie er¬
fahren. Dieses Gespräch fand zu einer Zeit statt, wo meine Ab¬
berufung schon wahrscheinlich war, und meine nicht blos höfliche,
sondern wahrheitsgemäße Aeußerung, daß ich meine Abberufung

Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention.
der ruſſiſchen Politik war dazu angethan, die ſeit dem Pariſer
Frieden und ſchon früher gelegentlich angeſtrebte ruſſiſch-franzöſiſche
Fühlung zu beleben, und ein polenfreundliches, ruſſiſch-franzöſiſches
Bündniß, wie es vor der Julirevolution in der Luft ſchwebte, hätte
das damalige Preußen in eine ſchwierige Lage gebracht. Wir hatten
das Intereſſe, im ruſſiſchen Cabinet die Partei der polniſchen
Sympathien, auch ſolcher im Sinne Alexanders I., zu bekämpfen.
Daß Rußland ſelbſt keine Sicherheit gegen die polniſche Verbrüde¬
rung gewährte, konnte ich aus den vertraulichen Geſprächen ent¬
nehmen, die ich theils mit Gortſchakow, theils mit dem Kaiſer
ſelbſt hatte. Kaiſer Alexander war damals nicht abgeneigt, Polen
theilweis aufzugeben; er hat mir das mit dürren Worten geſagt,
wenigſtens mit Bezug auf das linke Weichſelufer, indem er, ohne
Accent darauf zu legen, Warſchau ausnahm, das immerhin als
Garniſon in der Armee ſeinen Reiz hätte und ſtrategiſch zu dem
Feſtungsdreieck an der Weichſel gehörte, Polen wäre eine Quelle
von Unruhe und europäiſchen Gefahren für Rußland, die Ruſſifi¬
cirung ſei nicht durchführbar wegen der confeſſionellen Verſchieden¬
heit und wegen des Mangels an adminiſtrativer Befähigung der
ruſſiſchen Organe. Bei uns gelinge es, das polniſche Gebiet zu
germaniſiren (?), wir hätten die Mittel dazu, weil die deutſche Be¬
völkerung gebildeter ſei als die polniſche. Der Ruſſe fühle nicht
die nöthige Ueberlegenheit, um die Polen zu beherrſchen, man
müſſe ſich auf das Minimum polniſcher Bevölkerung beſchränken,
welches die geographiſche Lage zulaſſe, alſo auf die Weichſelgrenze
und Warſchau als Brückenkopf.

Ich kann nicht darüber urtheilen, in wie weit dieſe Darlegung
des Kaiſers reiflich erwogen war. Mit Staatsmännern beſprochen
wird ſie geweſen ſein, denn eine ganz ſelbſtändige, perſönliche,
politiſche Initiative mir gegenüber habe ich vom Kaiſer nie er¬
fahren. Dieſes Geſpräch fand zu einer Zeit ſtatt, wo meine Ab¬
berufung ſchon wahrſcheinlich war, und meine nicht blos höfliche,
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[308/0335] Fünfzehntes Kapitel: Die Alvenslebenſche Convention. der ruſſiſchen Politik war dazu angethan, die ſeit dem Pariſer Frieden und ſchon früher gelegentlich angeſtrebte ruſſiſch-franzöſiſche Fühlung zu beleben, und ein polenfreundliches, ruſſiſch-franzöſiſches Bündniß, wie es vor der Julirevolution in der Luft ſchwebte, hätte das damalige Preußen in eine ſchwierige Lage gebracht. Wir hatten das Intereſſe, im ruſſiſchen Cabinet die Partei der polniſchen Sympathien, auch ſolcher im Sinne Alexanders I., zu bekämpfen. Daß Rußland ſelbſt keine Sicherheit gegen die polniſche Verbrüde¬ rung gewährte, konnte ich aus den vertraulichen Geſprächen ent¬ nehmen, die ich theils mit Gortſchakow, theils mit dem Kaiſer ſelbſt hatte. Kaiſer Alexander war damals nicht abgeneigt, Polen theilweis aufzugeben; er hat mir das mit dürren Worten geſagt, wenigſtens mit Bezug auf das linke Weichſelufer, indem er, ohne Accent darauf zu legen, Warſchau ausnahm, das immerhin als Garniſon in der Armee ſeinen Reiz hätte und ſtrategiſch zu dem Feſtungsdreieck an der Weichſel gehörte, Polen wäre eine Quelle von Unruhe und europäiſchen Gefahren für Rußland, die Ruſſifi¬ cirung ſei nicht durchführbar wegen der confeſſionellen Verſchieden¬ heit und wegen des Mangels an adminiſtrativer Befähigung der ruſſiſchen Organe. Bei uns gelinge es, das polniſche Gebiet zu germaniſiren (?), wir hätten die Mittel dazu, weil die deutſche Be¬ völkerung gebildeter ſei als die polniſche. Der Ruſſe fühle nicht die nöthige Ueberlegenheit, um die Polen zu beherrſchen, man müſſe ſich auf das Minimum polniſcher Bevölkerung beſchränken, welches die geographiſche Lage zulaſſe, alſo auf die Weichſelgrenze und Warſchau als Brückenkopf. Ich kann nicht darüber urtheilen, in wie weit dieſe Darlegung des Kaiſers reiflich erwogen war. Mit Staatsmännern beſprochen wird ſie geweſen ſein, denn eine ganz ſelbſtändige, perſönliche, politiſche Initiative mir gegenüber habe ich vom Kaiſer nie er¬ fahren. Dieſes Geſpräch fand zu einer Zeit ſtatt, wo meine Ab¬ berufung ſchon wahrſcheinlich war, und meine nicht blos höfliche, ſondern wahrheitsgemäße Aeußerung, daß ich meine Abberufung

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/335>, abgerufen am 22.11.2024.