Preußen war nominell eine Großmacht, jedenfalls die fünfte; es hatte diese Stellung durch die geistige Ueberlegenheit Friedrichs des Großen erlangt und durch die gewaltigen Leistungen der Volkskraft 1813 rehabilitirt. Ohne die ritterliche Haltung des Kaisers Alexander I., die er von 1812 unter Steinischem, jeden¬ falls deutschem Einfluß bis zum Wiener Congreß beobachtete, wäre es fraglich geblieben, ob die nationale Begeisterung der vier Millionen Preußen des Tilsiter Friedens und einer andern vielleicht gleichen Zahl von sympathizers in altpreußischen oder deutschen Ländern genügt hätte, von der damaligen Humboldtischen und Hardenbergischen Diplomatie und der Schüchternheit Friedrich Wilhelms III. so verwerthet zu werden, daß auch nur die künst¬ liche Neubildung Preußens, so wie sie 1815 geschah, zu Stande gekommen wäre. Das Körpergewicht Preußens entsprach damals nicht seiner geistigen Bedeutung und seiner Leistung in den Frei¬ heitskriegen.
Deutscher Patriotismus bedarf in der Regel, um thätig und wirksam zu werden, der Vermittlung dynastischer Anhänglichkeit; unabhängig von letztrer kommt er praktisch nur in seltenen Fällen zur Hebung, wenn auch theoretisch täglich, in Parlamenten, Zei¬ tungen und Versammlungen; in praxi bedarf der Deutsche einer Dynastie, der er anhängt, oder einer Reizung, die in ihm den Zorn weckt, der zu Thaten treibt. Letztre Erscheinung ist aber ihrer Natur nach keine dauernde Institution. Als Preuße, Ha¬ noveraner, Würtemberger, Baier, Hesse ist er früher bereit, seinen Patriotismus zu documentiren, wie als Deutscher; und in den untern Klassen und in Parlaments-Fractionen wird es noch lange dauern, ehe das anders wird. Man kann nicht sagen, daß die hanöversche, die hessische Dynastie und andre sich besonders bemüht hätten, sich das Wohlwollen ihrer Unterthanen zu erwerben, aber dennoch wird der deutsche Patriotismus der letztern wesentlich bedingt durch ihre Anhänglichkeit an die Dynastie, nach welcher sie sich nennen. Es sind nicht Stammesunterschiede, sondern
Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
Preußen war nominell eine Großmacht, jedenfalls die fünfte; es hatte dieſe Stellung durch die geiſtige Ueberlegenheit Friedrichs des Großen erlangt und durch die gewaltigen Leiſtungen der Volkskraft 1813 rehabilitirt. Ohne die ritterliche Haltung des Kaiſers Alexander I., die er von 1812 unter Steiniſchem, jeden¬ falls deutſchem Einfluß bis zum Wiener Congreß beobachtete, wäre es fraglich geblieben, ob die nationale Begeiſterung der vier Millionen Preußen des Tilſiter Friedens und einer andern vielleicht gleichen Zahl von sympathizers in altpreußiſchen oder deutſchen Ländern genügt hätte, von der damaligen Humboldtiſchen und Hardenbergiſchen Diplomatie und der Schüchternheit Friedrich Wilhelms III. ſo verwerthet zu werden, daß auch nur die künſt¬ liche Neubildung Preußens, ſo wie ſie 1815 geſchah, zu Stande gekommen wäre. Das Körpergewicht Preußens entſprach damals nicht ſeiner geiſtigen Bedeutung und ſeiner Leiſtung in den Frei¬ heitskriegen.
Deutſcher Patriotismus bedarf in der Regel, um thätig und wirkſam zu werden, der Vermittlung dynaſtiſcher Anhänglichkeit; unabhängig von letztrer kommt er praktiſch nur in ſeltenen Fällen zur Hebung, wenn auch theoretiſch täglich, in Parlamenten, Zei¬ tungen und Verſammlungen; in praxi bedarf der Deutſche einer Dynaſtie, der er anhängt, oder einer Reizung, die in ihm den Zorn weckt, der zu Thaten treibt. Letztre Erſcheinung iſt aber ihrer Natur nach keine dauernde Inſtitution. Als Preuße, Ha¬ noveraner, Würtemberger, Baier, Heſſe iſt er früher bereit, ſeinen Patriotismus zu documentiren, wie als Deutſcher; und in den untern Klaſſen und in Parlaments-Fractionen wird es noch lange dauern, ehe das anders wird. Man kann nicht ſagen, daß die hanöverſche, die heſſiſche Dynaſtie und andre ſich beſonders bemüht hätten, ſich das Wohlwollen ihrer Unterthanen zu erwerben, aber dennoch wird der deutſche Patriotismus der letztern weſentlich bedingt durch ihre Anhänglichkeit an die Dynaſtie, nach welcher ſie ſich nennen. Es ſind nicht Stammesunterſchiede, ſondern
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Dreizehntes Kapitel: Dynaſtien und Stämme.
Preußen war nominell eine Großmacht, jedenfalls die fünfte;
es hatte dieſe Stellung durch die geiſtige Ueberlegenheit Friedrichs
des Großen erlangt und durch die gewaltigen Leiſtungen der
Volkskraft 1813 rehabilitirt. Ohne die ritterliche Haltung des
Kaiſers Alexander I., die er von 1812 unter Steiniſchem, jeden¬
falls deutſchem Einfluß bis zum Wiener Congreß beobachtete, wäre
es fraglich geblieben, ob die nationale Begeiſterung der vier
Millionen Preußen des Tilſiter Friedens und einer andern vielleicht
gleichen Zahl von sympathizers in altpreußiſchen oder deutſchen
Ländern genügt hätte, von der damaligen Humboldtiſchen und
Hardenbergiſchen Diplomatie und der Schüchternheit Friedrich
Wilhelms III. ſo verwerthet zu werden, daß auch nur die künſt¬
liche Neubildung Preußens, ſo wie ſie 1815 geſchah, zu Stande
gekommen wäre. Das Körpergewicht Preußens entſprach damals
nicht ſeiner geiſtigen Bedeutung und ſeiner Leiſtung in den Frei¬
heitskriegen.
Deutſcher Patriotismus bedarf in der Regel, um thätig und
wirkſam zu werden, der Vermittlung dynaſtiſcher Anhänglichkeit;
unabhängig von letztrer kommt er praktiſch nur in ſeltenen Fällen
zur Hebung, wenn auch theoretiſch täglich, in Parlamenten, Zei¬
tungen und Verſammlungen; in praxi bedarf der Deutſche einer
Dynaſtie, der er anhängt, oder einer Reizung, die in ihm den
Zorn weckt, der zu Thaten treibt. Letztre Erſcheinung iſt aber
ihrer Natur nach keine dauernde Inſtitution. Als Preuße, Ha¬
noveraner, Würtemberger, Baier, Heſſe iſt er früher bereit, ſeinen
Patriotismus zu documentiren, wie als Deutſcher; und in den
untern Klaſſen und in Parlaments-Fractionen wird es noch lange
dauern, ehe das anders wird. Man kann nicht ſagen, daß die
hanöverſche, die heſſiſche Dynaſtie und andre ſich beſonders bemüht
hätten, ſich das Wohlwollen ihrer Unterthanen zu erwerben, aber
dennoch wird der deutſche Patriotismus der letztern weſentlich
bedingt durch ihre Anhänglichkeit an die Dynaſtie, nach welcher
ſie ſich nennen. Es ſind nicht Stammesunterſchiede, ſondern
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/317>, abgerufen am 25.11.2024.
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