Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußische Politik. nach der Juli Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall seinerHeereseinrichtungen so weit auszubessern, daß es eben nur seine italienischen Interessen zu schützen im Stande war. Die öst¬ reichische Politik war unter Metternich geschickt genug, um jede Entschließung der drei östlichen Großmächte so lange zu verschleppen, bis Oestreich sich hinlänglich gerüstet fühlte, um mitzureden. Nur in Preußen functionirte die militärische Maschine, so schwerfällig sie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußische Politik eigne Entschlüsse zu fassen vermocht, so würde sie Kraft genug ge¬ funden haben, die Lage von 1830 in Deutschland und den Nieder¬ landen nach ihrem Ermessen zu präjudiciren. Aber eine selbständige preußische Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger Jahre überhaupt nicht bestanden; unsre Politik wurde abwechselnd in Wien und in Petersburg gemacht. So weit sie in Berlin von 1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 selbständig ihre Wege suchte, wird sie vor der Kritik vom Standpunkte eines strebsamen Preußen kaum Anerkennung finden. Die Eigenschaft einer Großmacht konnten wir uns vor 1866 Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik. nach der Juli Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall ſeinerHeereseinrichtungen ſo weit auszubeſſern, daß es eben nur ſeine italieniſchen Intereſſen zu ſchützen im Stande war. Die öſt¬ reichiſche Politik war unter Metternich geſchickt genug, um jede Entſchließung der drei öſtlichen Großmächte ſo lange zu verſchleppen, bis Oeſtreich ſich hinlänglich gerüſtet fühlte, um mitzureden. Nur in Preußen functionirte die militäriſche Maſchine, ſo ſchwerfällig ſie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußiſche Politik eigne Entſchlüſſe zu faſſen vermocht, ſo würde ſie Kraft genug ge¬ funden haben, die Lage von 1830 in Deutſchland und den Nieder¬ landen nach ihrem Ermeſſen zu präjudiciren. Aber eine ſelbſtändige preußiſche Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger Jahre überhaupt nicht beſtanden; unſre Politik wurde abwechſelnd in Wien und in Petersburg gemacht. So weit ſie in Berlin von 1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 ſelbſtändig ihre Wege ſuchte, wird ſie vor der Kritik vom Standpunkte eines ſtrebſamen Preußen kaum Anerkennung finden. Die Eigenſchaft einer Großmacht konnten wir uns vor 1866 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0303" n="276"/><fw place="top" type="header">Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.<lb/></fw> nach der Juli Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall ſeiner<lb/> Heereseinrichtungen ſo weit auszubeſſern, daß es eben nur ſeine<lb/> italieniſchen Intereſſen zu ſchützen im Stande war. Die öſt¬<lb/> reichiſche Politik war unter Metternich geſchickt genug, um jede<lb/> Entſchließung der drei öſtlichen Großmächte ſo lange zu verſchleppen,<lb/> bis Oeſtreich ſich hinlänglich gerüſtet fühlte, um mitzureden. Nur<lb/> in Preußen functionirte die militäriſche Maſchine, ſo ſchwerfällig<lb/> ſie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußiſche Politik<lb/> eigne Entſchlüſſe zu faſſen vermocht, ſo würde ſie Kraft genug ge¬<lb/> funden haben, die Lage von 1830 in Deutſchland und den Nieder¬<lb/> landen nach ihrem Ermeſſen zu präjudiciren. Aber eine ſelbſtändige<lb/> preußiſche Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger<lb/> Jahre überhaupt nicht beſtanden; unſre Politik wurde abwechſelnd<lb/> in Wien und in Petersburg gemacht. So weit ſie in Berlin von<lb/> 1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 ſelbſtändig ihre Wege ſuchte,<lb/> wird ſie vor der Kritik vom Standpunkte eines ſtrebſamen Preußen<lb/> kaum Anerkennung finden.</p><lb/> <p>Die Eigenſchaft einer Großmacht konnten wir uns vor 1866<lb/> nur <hi rendition="#aq">cum grano salis</hi> beimeſſen, und wir hielten nach dem Krim¬<lb/> kriege für nöthig, uns um eine äußerliche Anerkennung derſelben durch<lb/> Antichambriren im Pariſer Congreſſe zu bewerben. Wir bekannten,<lb/> daß wir eines Atteſtes andrer Mächte bedurften, um uns als Gro߬<lb/> macht zu fühlen. Dem Maßſtabe der Gortſchakow'ſchen Redensart<lb/> bezüglich Italiens <hi rendition="#aq">„une grande puissance ne se reconnaît pas,<lb/> elle se révèle“</hi> fühlten wir uns nicht gewachſen. Die <hi rendition="#aq">révélation</hi>,<lb/> daß Preußen eine Großmacht ſei, war vorher zu Zeiten in Europa<lb/> anerkannt geweſen (vgl. Kapitel 5), aber ſie erlitt durch lange<lb/> Jahre kleinmüthiger Politik eine Abſchwächung, die ſchließlich<lb/> in der kläglichen Rolle, welche Manteuffel in Paris übernahm,<lb/> ihren Ausdruck fand. Seine verſpätete Zulaſſung konnte die Wahr¬<lb/> heit nicht entkräften, daß eine Großmacht zu ihrer Anerkennung vor<lb/> allen Dingen der Ueberzeugung und des Muthes, eine ſolche zu<lb/> ſein, bedarf. Ich habe es als einen bedauerlichen Mangel an<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [276/0303]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
nach der Juli Revolution mehr als ein Jahr, um den Verfall ſeiner
Heereseinrichtungen ſo weit auszubeſſern, daß es eben nur ſeine
italieniſchen Intereſſen zu ſchützen im Stande war. Die öſt¬
reichiſche Politik war unter Metternich geſchickt genug, um jede
Entſchließung der drei öſtlichen Großmächte ſo lange zu verſchleppen,
bis Oeſtreich ſich hinlänglich gerüſtet fühlte, um mitzureden. Nur
in Preußen functionirte die militäriſche Maſchine, ſo ſchwerfällig
ſie war, mit voller Genauigkeit, und hätte die preußiſche Politik
eigne Entſchlüſſe zu faſſen vermocht, ſo würde ſie Kraft genug ge¬
funden haben, die Lage von 1830 in Deutſchland und den Nieder¬
landen nach ihrem Ermeſſen zu präjudiciren. Aber eine ſelbſtändige
preußiſche Politik hat in der Zeit von 1806 bis in die vierziger
Jahre überhaupt nicht beſtanden; unſre Politik wurde abwechſelnd
in Wien und in Petersburg gemacht. So weit ſie in Berlin von
1786 bis 1806 und 1842 bis 1862 ſelbſtändig ihre Wege ſuchte,
wird ſie vor der Kritik vom Standpunkte eines ſtrebſamen Preußen
kaum Anerkennung finden.
Die Eigenſchaft einer Großmacht konnten wir uns vor 1866
nur cum grano salis beimeſſen, und wir hielten nach dem Krim¬
kriege für nöthig, uns um eine äußerliche Anerkennung derſelben durch
Antichambriren im Pariſer Congreſſe zu bewerben. Wir bekannten,
daß wir eines Atteſtes andrer Mächte bedurften, um uns als Gro߬
macht zu fühlen. Dem Maßſtabe der Gortſchakow'ſchen Redensart
bezüglich Italiens „une grande puissance ne se reconnaît pas,
elle se révèle“ fühlten wir uns nicht gewachſen. Die révélation,
daß Preußen eine Großmacht ſei, war vorher zu Zeiten in Europa
anerkannt geweſen (vgl. Kapitel 5), aber ſie erlitt durch lange
Jahre kleinmüthiger Politik eine Abſchwächung, die ſchließlich
in der kläglichen Rolle, welche Manteuffel in Paris übernahm,
ihren Ausdruck fand. Seine verſpätete Zulaſſung konnte die Wahr¬
heit nicht entkräften, daß eine Großmacht zu ihrer Anerkennung vor
allen Dingen der Ueberzeugung und des Muthes, eine ſolche zu
ſein, bedarf. Ich habe es als einen bedauerlichen Mangel an
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/303 |
| Zitationshilfe: | Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/303>, abgerufen am 20.05.2024. |
