Preußen als russischer Vasallenstaat. Ursache der Abhängigkeit.
1813 voll bezahlt machte, indem er uns die Olmützer Demüthigung aufzwang. Später kamen wir Rußland gegenüber im Krimkriege, im polnischen Aufstande von 1863 bedeutend in Vorschuß, und wenn wir in dem genannten Jahre Alexanders II. eigenhändiger Auf¬ forderung zum Kriege nicht Folge leisteten, und er darüber und in der dänischen Frage Empfindlichkeit bewies, so zeigt dies nur, wie weit der russische Anspruch schon über Gleichberechtigung hinaus gediehen war und Unterordnung verlangte.
Das Deficit auf unsrer Seite war einmal durch Verwand¬ schafts-Gefühl, durch die Gewohnheit der Abhängigkeit, in welcher die geringere Energie von der größern stand, sodann durch den Irrthum bedingt, als ob Nicolaus dieselben Gesinnungen wie Alexander I. für uns hege, und dieselben Ansprüche auf Dankbarkeit aus der Zeit der Freiheitskriege habe. In der That aber trat während der Regirung des Kaisers Nicolaus kein im deutschen Gemüth wurzelndes Motiv hervor, unsre Freundschaft mit Rußland auf dem Fuße der Gleichheit zu pflegen und mindestens einen analogen Nutzen daraus zu ziehn, wie Rußland aus unsrer Dienst¬ leistung. Etwas mehr Selbstgefühl und Kraftbewußtsein würde unsern Anspruch auf Gegenseitigkeit in Petersburg zur Anerkennung gebracht haben, um so mehr, als 1830 nach der Juli-Revolution Preußen, trotz der Schwerfälligkeit seines Landwehr-Systems, diesem überraschenden Ereigniß gegenüber reichlich ein Jahr lang ohne Zweifel der stärkste, vielleicht der einzige zum Schlagen befähigte Militärstaat in Europa war. Wie sehr nicht nur in Oestreich, sondern auch in Rußland die militärischen Einrichtungen in 15 Frie¬ densjahren vernachlässigt worden waren, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Garde des Kaisers und der polnischen Armee des Großfürsten Constantin, bewies die Schwäche und Langsamkeit der Rüstung des gewaltigen russischen Reichs gegen den Aufstand des kleinen Warschauer Königreichs.
Aehnliche Verhältnisse fanden damals in der französischen und mehr noch in der östreichischen Armee statt. Oestreich brauchte
Preußen als ruſſiſcher Vaſallenſtaat. Urſache der Abhängigkeit.
1813 voll bezahlt machte, indem er uns die Olmützer Demüthigung aufzwang. Später kamen wir Rußland gegenüber im Krimkriege, im polniſchen Aufſtande von 1863 bedeutend in Vorſchuß, und wenn wir in dem genannten Jahre Alexanders II. eigenhändiger Auf¬ forderung zum Kriege nicht Folge leiſteten, und er darüber und in der däniſchen Frage Empfindlichkeit bewies, ſo zeigt dies nur, wie weit der ruſſiſche Anſpruch ſchon über Gleichberechtigung hinaus gediehen war und Unterordnung verlangte.
Das Deficit auf unſrer Seite war einmal durch Verwand¬ ſchafts-Gefühl, durch die Gewohnheit der Abhängigkeit, in welcher die geringere Energie von der größern ſtand, ſodann durch den Irrthum bedingt, als ob Nicolaus dieſelben Geſinnungen wie Alexander I. für uns hege, und dieſelben Anſprüche auf Dankbarkeit aus der Zeit der Freiheitskriege habe. In der That aber trat während der Regirung des Kaiſers Nicolaus kein im deutſchen Gemüth wurzelndes Motiv hervor, unſre Freundſchaft mit Rußland auf dem Fuße der Gleichheit zu pflegen und mindeſtens einen analogen Nutzen daraus zu ziehn, wie Rußland aus unſrer Dienſt¬ leiſtung. Etwas mehr Selbſtgefühl und Kraftbewußtſein würde unſern Anſpruch auf Gegenſeitigkeit in Petersburg zur Anerkennung gebracht haben, um ſo mehr, als 1830 nach der Juli-Revolution Preußen, trotz der Schwerfälligkeit ſeines Landwehr-Syſtems, dieſem überraſchenden Ereigniß gegenüber reichlich ein Jahr lang ohne Zweifel der ſtärkſte, vielleicht der einzige zum Schlagen befähigte Militärſtaat in Europa war. Wie ſehr nicht nur in Oeſtreich, ſondern auch in Rußland die militäriſchen Einrichtungen in 15 Frie¬ densjahren vernachläſſigt worden waren, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Garde des Kaiſers und der polniſchen Armee des Großfürſten Conſtantin, bewies die Schwäche und Langſamkeit der Rüſtung des gewaltigen ruſſiſchen Reichs gegen den Aufſtand des kleinen Warſchauer Königreichs.
Aehnliche Verhältniſſe fanden damals in der franzöſiſchen und mehr noch in der öſtreichiſchen Armee ſtatt. Oeſtreich brauchte
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Preußen als ruſſiſcher Vaſallenſtaat. Urſache der Abhängigkeit.
1813 voll bezahlt machte, indem er uns die Olmützer Demüthigung
aufzwang. Später kamen wir Rußland gegenüber im Krimkriege,
im polniſchen Aufſtande von 1863 bedeutend in Vorſchuß, und
wenn wir in dem genannten Jahre Alexanders II. eigenhändiger Auf¬
forderung zum Kriege nicht Folge leiſteten, und er darüber und in
der däniſchen Frage Empfindlichkeit bewies, ſo zeigt dies nur, wie
weit der ruſſiſche Anſpruch ſchon über Gleichberechtigung hinaus
gediehen war und Unterordnung verlangte.
Das Deficit auf unſrer Seite war einmal durch Verwand¬
ſchafts-Gefühl, durch die Gewohnheit der Abhängigkeit, in welcher
die geringere Energie von der größern ſtand, ſodann durch den
Irrthum bedingt, als ob Nicolaus dieſelben Geſinnungen wie
Alexander I. für uns hege, und dieſelben Anſprüche auf Dankbarkeit
aus der Zeit der Freiheitskriege habe. In der That aber trat
während der Regirung des Kaiſers Nicolaus kein im deutſchen
Gemüth wurzelndes Motiv hervor, unſre Freundſchaft mit Rußland
auf dem Fuße der Gleichheit zu pflegen und mindeſtens einen
analogen Nutzen daraus zu ziehn, wie Rußland aus unſrer Dienſt¬
leiſtung. Etwas mehr Selbſtgefühl und Kraftbewußtſein würde
unſern Anſpruch auf Gegenſeitigkeit in Petersburg zur Anerkennung
gebracht haben, um ſo mehr, als 1830 nach der Juli-Revolution
Preußen, trotz der Schwerfälligkeit ſeines Landwehr-Syſtems, dieſem
überraſchenden Ereigniß gegenüber reichlich ein Jahr lang ohne
Zweifel der ſtärkſte, vielleicht der einzige zum Schlagen befähigte
Militärſtaat in Europa war. Wie ſehr nicht nur in Oeſtreich,
ſondern auch in Rußland die militäriſchen Einrichtungen in 15 Frie¬
densjahren vernachläſſigt worden waren, vielleicht mit alleiniger
Ausnahme der Garde des Kaiſers und der polniſchen Armee des
Großfürſten Conſtantin, bewies die Schwäche und Langſamkeit der
Rüſtung des gewaltigen ruſſiſchen Reichs gegen den Aufſtand des
kleinen Warſchauer Königreichs.
Aehnliche Verhältniſſe fanden damals in der franzöſiſchen
und mehr noch in der öſtreichiſchen Armee ſtatt. Oeſtreich brauchte
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/302>, abgerufen am 16.02.2025.
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