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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Sechstes Kapitel: Sanssouci und Coblenz.
nalität und Geburt ein vornehmeres Wesen sei als der Deutsche,
und daß der Beifall der öffentlichen Meinung von Paris und
London ein authentischeres Zeugniß des eignen Werthes bilde, als
unser eignes Bewußtsein. Die Kaiserin Augusta ist trotz ihrer
geistigen Begabung und trotz der Anerkennung, welche die Bethäti¬
gung ihres Pflichtgefühls auf verschiednen Gebieten bei uns ge¬
funden hat, doch von dem Druck dieses Alps niemals vollständig
frei geworden; ein sichrer Franzose mit geläufigem Französisch *)
imponirte ihr, und ein Engländer hatte bis zum Gegenbeweise die
Vermuthung für sich, daß er in Deutschland als vornehmer Mann
zu behandeln sei. So ward es in Weimar vor 70 Jahren gehalten,
und der Nachgeschmack davon hat sich mir in meiner amtlichen
Thätigkeit oft genug fühlbar gemacht. Wahrscheinlich hat in der
Zeit, von der die Rede ist, auch das Streben nach der englischen
Heirath ihres Sohnes die Prinzessin von Preußen in der Richtung
bestärkt, in welche Goltz und seine Freunde ihren Gemal zu ziehn
suchten.

Der Krimkrieg brachte die von Kind auf gewurzelte, früher
äußerlich nicht hervorgetretene Abneigung der Prinzessin gegen alles
Russische zur Erscheinung. Auf den Bällen Friedrich Wilhelm's III.,
wo ich sie als junge und schöne Frau zuerst gesehn habe, pflegte
sie in der Wahl der Tänzer Diplomaten, wohl auch russische, zu
begünstigen und unter ihnen solche, welche mehr für die Unter¬
haltung als für den Tanz begabt waren, die Glätte des Parkets
versuchen zu lassen. Ihre später sichtbar und wirksam gewordene
Abneigung gegen Rußland ist psychologisch schwer zu erklären. Die
Erinnerung an die Ermordung ihres Großvaters, des Kaisers Paul,
hatte schwerlich so nachhaltig gewirkt. Näher liegt die Vermuthung
der Nachwirkung eines Dissenses zwischen der hochbegabten, social
und politisch russischen Mutter, der Großherzogin von Weimar,
und ihren russischen Besuchern und dem lebhaften Temperament

*) Ihr Vorleser (Gerard) galt als französischer Spion!

Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz.
nalität und Geburt ein vornehmeres Weſen ſei als der Deutſche,
und daß der Beifall der öffentlichen Meinung von Paris und
London ein authentiſcheres Zeugniß des eignen Werthes bilde, als
unſer eignes Bewußtſein. Die Kaiſerin Auguſta iſt trotz ihrer
geiſtigen Begabung und trotz der Anerkennung, welche die Bethäti¬
gung ihres Pflichtgefühls auf verſchiednen Gebieten bei uns ge¬
funden hat, doch von dem Druck dieſes Alps niemals vollſtändig
frei geworden; ein ſichrer Franzoſe mit geläufigem Franzöſiſch *)
imponirte ihr, und ein Engländer hatte bis zum Gegenbeweiſe die
Vermuthung für ſich, daß er in Deutſchland als vornehmer Mann
zu behandeln ſei. So ward es in Weimar vor 70 Jahren gehalten,
und der Nachgeſchmack davon hat ſich mir in meiner amtlichen
Thätigkeit oft genug fühlbar gemacht. Wahrſcheinlich hat in der
Zeit, von der die Rede iſt, auch das Streben nach der engliſchen
Heirath ihres Sohnes die Prinzeſſin von Preußen in der Richtung
beſtärkt, in welche Goltz und ſeine Freunde ihren Gemal zu ziehn
ſuchten.

Der Krimkrieg brachte die von Kind auf gewurzelte, früher
äußerlich nicht hervorgetretene Abneigung der Prinzeſſin gegen alles
Ruſſiſche zur Erſcheinung. Auf den Bällen Friedrich Wilhelm's III.,
wo ich ſie als junge und ſchöne Frau zuerſt geſehn habe, pflegte
ſie in der Wahl der Tänzer Diplomaten, wohl auch ruſſiſche, zu
begünſtigen und unter ihnen ſolche, welche mehr für die Unter¬
haltung als für den Tanz begabt waren, die Glätte des Parkets
verſuchen zu laſſen. Ihre ſpäter ſichtbar und wirkſam gewordene
Abneigung gegen Rußland iſt pſychologiſch ſchwer zu erklären. Die
Erinnerung an die Ermordung ihres Großvaters, des Kaiſers Paul,
hatte ſchwerlich ſo nachhaltig gewirkt. Näher liegt die Vermuthung
der Nachwirkung eines Diſſenſes zwiſchen der hochbegabten, ſocial
und politiſch ruſſiſchen Mutter, der Großherzogin von Weimar,
und ihren ruſſiſchen Beſuchern und dem lebhaften Temperament

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[122/0149] Sechſtes Kapitel: Sansſouci und Coblenz. nalität und Geburt ein vornehmeres Weſen ſei als der Deutſche, und daß der Beifall der öffentlichen Meinung von Paris und London ein authentiſcheres Zeugniß des eignen Werthes bilde, als unſer eignes Bewußtſein. Die Kaiſerin Auguſta iſt trotz ihrer geiſtigen Begabung und trotz der Anerkennung, welche die Bethäti¬ gung ihres Pflichtgefühls auf verſchiednen Gebieten bei uns ge¬ funden hat, doch von dem Druck dieſes Alps niemals vollſtändig frei geworden; ein ſichrer Franzoſe mit geläufigem Franzöſiſch *) imponirte ihr, und ein Engländer hatte bis zum Gegenbeweiſe die Vermuthung für ſich, daß er in Deutſchland als vornehmer Mann zu behandeln ſei. So ward es in Weimar vor 70 Jahren gehalten, und der Nachgeſchmack davon hat ſich mir in meiner amtlichen Thätigkeit oft genug fühlbar gemacht. Wahrſcheinlich hat in der Zeit, von der die Rede iſt, auch das Streben nach der engliſchen Heirath ihres Sohnes die Prinzeſſin von Preußen in der Richtung beſtärkt, in welche Goltz und ſeine Freunde ihren Gemal zu ziehn ſuchten. Der Krimkrieg brachte die von Kind auf gewurzelte, früher äußerlich nicht hervorgetretene Abneigung der Prinzeſſin gegen alles Ruſſiſche zur Erſcheinung. Auf den Bällen Friedrich Wilhelm's III., wo ich ſie als junge und ſchöne Frau zuerſt geſehn habe, pflegte ſie in der Wahl der Tänzer Diplomaten, wohl auch ruſſiſche, zu begünſtigen und unter ihnen ſolche, welche mehr für die Unter¬ haltung als für den Tanz begabt waren, die Glätte des Parkets verſuchen zu laſſen. Ihre ſpäter ſichtbar und wirkſam gewordene Abneigung gegen Rußland iſt pſychologiſch ſchwer zu erklären. Die Erinnerung an die Ermordung ihres Großvaters, des Kaiſers Paul, hatte ſchwerlich ſo nachhaltig gewirkt. Näher liegt die Vermuthung der Nachwirkung eines Diſſenſes zwiſchen der hochbegabten, ſocial und politiſch ruſſiſchen Mutter, der Großherzogin von Weimar, und ihren ruſſiſchen Beſuchern und dem lebhaften Temperament *) Ihr Vorleſer (Gérard) galt als franzöſiſcher Spion!

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/149>, abgerufen am 24.11.2024.