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Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897.

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Drittes Buch, drittes Kapitel.

Stilpe erschien eine halbe Stunde vor Be¬
ginn der Festlichkeit. Mit ihm betrat Hulda
Ranker das Zimmer. Sie that es mit der Sicher¬
heit einer Person, die mit den Lokalitäten ver¬
traut ist. Hübsch war sie eigentlich nicht, aber sie
hatte das gewisse Pusselig-Graziöse der Leipzigerin,
an der der Kenner noch heute die Erbreste aus
jener galanten Zeit bemerkt, in der, wie die Kultur¬
historiker sagen, "die Leipzigerinnen an lockerer
Moral mit den Pariserinnen um die Palme rangen,"

Die Moral Huldas war wohl nie sehr fest ge¬
wesen, aber Stilpe hatte sie, obwohl er erst vor
vier Wochen dem Mädchen "das Taschentuch zu¬
geworfen" hatte, derart gelockert, daß sie voll¬
kommen durchsichtig geworden war. Aber das
stand Fräulein Hulda gerade gut. Sie gehörte zu den
Mädchen, die an Charakter gewinnen, indem sie an
Moral verlieren.

Im Übrigen war sie schlank, von guter Taille,
brünett und passabel angezogen. Tagüber ver¬
kaufte sie Cravatten. Diesem Umstand verdankte
die geistsprühende Scherzfrage Stilpes ihr Dasein:
Welcher Unterschied besteht zwischen Hogarth und
mir? Antwort: Jener malte ein Crevettenmädchen,
ich bedichte ein Cravattenmädchen.

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Drittes Buch, drittes Kapitel.

Stilpe erſchien eine halbe Stunde vor Be¬
ginn der Feſtlichkeit. Mit ihm betrat Hulda
Ranker das Zimmer. Sie that es mit der Sicher¬
heit einer Perſon, die mit den Lokalitäten ver¬
traut iſt. Hübſch war ſie eigentlich nicht, aber ſie
hatte das gewiſſe Puſſelig-Graziöſe der Leipzigerin,
an der der Kenner noch heute die Erbreſte aus
jener galanten Zeit bemerkt, in der, wie die Kultur¬
hiſtoriker ſagen, „die Leipzigerinnen an lockerer
Moral mit den Pariſerinnen um die Palme rangen,“

Die Moral Huldas war wohl nie ſehr feſt ge¬
weſen, aber Stilpe hatte ſie, obwohl er erſt vor
vier Wochen dem Mädchen „das Taſchentuch zu¬
geworfen“ hatte, derart gelockert, daß ſie voll¬
kommen durchſichtig geworden war. Aber das
ſtand Fräulein Hulda gerade gut. Sie gehörte zu den
Mädchen, die an Charakter gewinnen, indem ſie an
Moral verlieren.

Im Übrigen war ſie ſchlank, von guter Taille,
brünett und paſſabel angezogen. Tagüber ver¬
kaufte ſie Cravatten. Dieſem Umſtand verdankte
die geiſtſprühende Scherzfrage Stilpes ihr Daſein:
Welcher Unterſchied beſteht zwiſchen Hogarth und
mir? Antwort: Jener malte ein Crevettenmädchen,
ich bedichte ein Cravattenmädchen.

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[259/0273] Drittes Buch, drittes Kapitel. Stilpe erſchien eine halbe Stunde vor Be¬ ginn der Feſtlichkeit. Mit ihm betrat Hulda Ranker das Zimmer. Sie that es mit der Sicher¬ heit einer Perſon, die mit den Lokalitäten ver¬ traut iſt. Hübſch war ſie eigentlich nicht, aber ſie hatte das gewiſſe Puſſelig-Graziöſe der Leipzigerin, an der der Kenner noch heute die Erbreſte aus jener galanten Zeit bemerkt, in der, wie die Kultur¬ hiſtoriker ſagen, „die Leipzigerinnen an lockerer Moral mit den Pariſerinnen um die Palme rangen,“ Die Moral Huldas war wohl nie ſehr feſt ge¬ weſen, aber Stilpe hatte ſie, obwohl er erſt vor vier Wochen dem Mädchen „das Taſchentuch zu¬ geworfen“ hatte, derart gelockert, daß ſie voll¬ kommen durchſichtig geworden war. Aber das ſtand Fräulein Hulda gerade gut. Sie gehörte zu den Mädchen, die an Charakter gewinnen, indem ſie an Moral verlieren. Im Übrigen war ſie ſchlank, von guter Taille, brünett und paſſabel angezogen. Tagüber ver¬ kaufte ſie Cravatten. Dieſem Umſtand verdankte die geiſtſprühende Scherzfrage Stilpes ihr Daſein: Welcher Unterſchied beſteht zwiſchen Hogarth und mir? Antwort: Jener malte ein Crevettenmädchen, ich bedichte ein Cravattenmädchen. 17*

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Zitationshilfe: Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bierbaum_stilpe_1897/273>, abgerufen am 22.11.2024.