Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_239.001 p3b_239.015 p3b_239.016 p3b_239.019 p3b_239.020 p3b_239.021 p3b_239.030 p3b_239.033 p3b_239.035 p3b_239.001 p3b_239.015 p3b_239.016 p3b_239.019 p3b_239.020 p3b_239.021 p3b_239.030 p3b_239.033 p3b_239.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0265" n="239"/><lb n="p3b_239.001"/> partitive Genitiv steht nicht im Original. „Hemmte die Thrän'“ ist im <lb n="p3b_239.002"/> Original Plural. Jn Vers 12 hat Voß die beiden Glieder in eines <lb n="p3b_239.003"/> zusammengezogen. „Will ich gehorchen dem Wunsch.“ Für das wörtliche <lb n="p3b_239.004"/> „ich will anfangen,“ ist diese Form zu weitläufig und zudem keineswegs schön <lb n="p3b_239.005"/> poetisch gesagt. „Kriegssatt“ (für <hi rendition="#aq">fracti</hi> == gebrochen): kriegsmatt entspräche <lb n="p3b_239.006"/> wohl mehr. <hi rendition="#aq">Labentibus annis</hi> hat Voß unnötiger Weise zu einem Hauptsatze <lb n="p3b_239.007"/> gemacht und dadurch die Beziehung zwischen <hi rendition="#aq">fracti</hi> und <hi rendition="#aq">aedificant</hi> verrückt. <lb n="p3b_239.008"/> (Die Not hat zu dem letzten Versuche mit dem Bau des Rosses geführt.) <lb n="p3b_239.009"/> „Spünden mit tannener Bohle“ ist Prosa für das anschauliche, textliche <lb n="p3b_239.010"/> „aus gehauener Tanne“. Das Gerücht „fliegt“ ist nicht wörtlich. „Sind <lb n="p3b_239.011"/> voll des Kriegers“ ist nicht poetisch, nicht wörtlich, nicht deutsch. Eine <lb n="p3b_239.012"/> Verbindung wie „des Gottes voll“ wäre nicht zu beanstanden. (Man vergleiche <lb n="p3b_239.013"/> damit die freie Bearbeitung Schillers in: „Zerstörung von Troja“ <lb n="p3b_239.014"/> Str. 1. 2. 3, welche kaum mehr als Übersetzung gelten kann.)</p> <p><lb n="p3b_239.015"/><hi rendition="#g">Aufgabe</hi> 2. <hi rendition="#g">Nachbildung von Horaz Oden, Buch</hi> <hi rendition="#aq">I</hi>, 10.</p> <p><lb n="p3b_239.016"/><hi rendition="#g">Anleitung.</hi> 1. Diese leichte, an und für sich unbedeutende, wenn auch <lb n="p3b_239.017"/> ansprechende Ode wurde mit Rücksicht auf unsern Zweck, für den Anfänger <lb n="p3b_239.018"/> zunächst etwas Leichteres und Kürzeres zu bieten, gewählt.</p> <p><lb n="p3b_239.019"/> 2. Die Ode besteht aus sapphischen Strophen.</p> <p><lb n="p3b_239.020"/> 3. Dieselbe ist genau zu überdenken, um ihren Geist erfassen zu können.</p> <p><lb n="p3b_239.021"/> 4. Nunmehr versuche man die wörtliche oder wortgetreue Übersetzung. <lb n="p3b_239.022"/> Man mache sich die Bedeutung jedes einzelnen Wortes klar; schreibe eine zusammenhängende <lb n="p3b_239.023"/> Prosaübersetzung nieder, um schließlich die metrische Übertragung <lb n="p3b_239.024"/> zu erreichen. Man werde sich klar, welche Abweichungen man sich gestattet <lb n="p3b_239.025"/> hat, welche Unterschiede zwischen der Übersetzung und dem Originale bestehen; <lb n="p3b_239.026"/> man frage sich, ob und warum man sich Abweichungen gestatten durfte, welche <lb n="p3b_239.027"/> derselben man etwa zurücknehmen muß u. s. w. Jst man zu einem Schlusse <lb n="p3b_239.028"/> gekommen, so möge man das Produkt laut vorlesen. Auf diese Weise mahnt <lb n="p3b_239.029"/> das Ohr an prosodische Jnkorrektheiten u. s. w.</p> <p><lb n="p3b_239.030"/> 5. Zur Erreichung der Treue muß bei der sapphischen Strophe statt des <lb n="p3b_239.031"/> Ditrochäus der von Horaz angewandte Trochäus-Spondeus am Anfang der <lb n="p3b_239.032"/> Verse erstrebt werden.</p> <p><lb n="p3b_239.033"/> 6. Wesentlich ist die Beachtung des deutschen Accents. Es sind also <lb n="p3b_239.034"/> nur betonte Stammsilben in die Arsis der Verstakte zu stellen.</p> <p><lb n="p3b_239.035"/> 7. Eine stehende Cäsur nach der Arsis des Daktylus ist nicht nötig, da <lb n="p3b_239.036"/> sie auch bei Horaz nicht streng angewandt ist. Um so weniger ist diese Cäsur <lb n="p3b_239.037"/> im Deutschen erforderlich, als der lateinischen, quantitierenden Sprache für <lb n="p3b_239.038"/> Herstellung jener Cäsur spondeische und molossische Wörter <hi rendition="#g">vor,</hi> dagegen pyrrhichische <lb n="p3b_239.039"/> und anapästische <hi rendition="#g">nach</hi> derselben in Menge zu Gebot stehen, während <lb n="p3b_239.040"/> unserer accentuierenden deutschen Sprache die Wörter der letzteren Art fast ganz <lb n="p3b_239.041"/> fehlen und die ersteren (zufolge unserer Betonungsgesetze) großenteils nicht verwendbar </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [239/0265]
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partitive Genitiv steht nicht im Original. „Hemmte die Thrän'“ ist im p3b_239.002
Original Plural. Jn Vers 12 hat Voß die beiden Glieder in eines p3b_239.003
zusammengezogen. „Will ich gehorchen dem Wunsch.“ Für das wörtliche p3b_239.004
„ich will anfangen,“ ist diese Form zu weitläufig und zudem keineswegs schön p3b_239.005
poetisch gesagt. „Kriegssatt“ (für fracti == gebrochen): kriegsmatt entspräche p3b_239.006
wohl mehr. Labentibus annis hat Voß unnötiger Weise zu einem Hauptsatze p3b_239.007
gemacht und dadurch die Beziehung zwischen fracti und aedificant verrückt. p3b_239.008
(Die Not hat zu dem letzten Versuche mit dem Bau des Rosses geführt.) p3b_239.009
„Spünden mit tannener Bohle“ ist Prosa für das anschauliche, textliche p3b_239.010
„aus gehauener Tanne“. Das Gerücht „fliegt“ ist nicht wörtlich. „Sind p3b_239.011
voll des Kriegers“ ist nicht poetisch, nicht wörtlich, nicht deutsch. Eine p3b_239.012
Verbindung wie „des Gottes voll“ wäre nicht zu beanstanden. (Man vergleiche p3b_239.013
damit die freie Bearbeitung Schillers in: „Zerstörung von Troja“ p3b_239.014
Str. 1. 2. 3, welche kaum mehr als Übersetzung gelten kann.)
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Aufgabe 2. Nachbildung von Horaz Oden, Buch I, 10.
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Anleitung. 1. Diese leichte, an und für sich unbedeutende, wenn auch p3b_239.017
ansprechende Ode wurde mit Rücksicht auf unsern Zweck, für den Anfänger p3b_239.018
zunächst etwas Leichteres und Kürzeres zu bieten, gewählt.
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2. Die Ode besteht aus sapphischen Strophen.
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3. Dieselbe ist genau zu überdenken, um ihren Geist erfassen zu können.
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4. Nunmehr versuche man die wörtliche oder wortgetreue Übersetzung. p3b_239.022
Man mache sich die Bedeutung jedes einzelnen Wortes klar; schreibe eine zusammenhängende p3b_239.023
Prosaübersetzung nieder, um schließlich die metrische Übertragung p3b_239.024
zu erreichen. Man werde sich klar, welche Abweichungen man sich gestattet p3b_239.025
hat, welche Unterschiede zwischen der Übersetzung und dem Originale bestehen; p3b_239.026
man frage sich, ob und warum man sich Abweichungen gestatten durfte, welche p3b_239.027
derselben man etwa zurücknehmen muß u. s. w. Jst man zu einem Schlusse p3b_239.028
gekommen, so möge man das Produkt laut vorlesen. Auf diese Weise mahnt p3b_239.029
das Ohr an prosodische Jnkorrektheiten u. s. w.
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Ditrochäus der von Horaz angewandte Trochäus-Spondeus am Anfang der p3b_239.032
Verse erstrebt werden.
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6. Wesentlich ist die Beachtung des deutschen Accents. Es sind also p3b_239.034
nur betonte Stammsilben in die Arsis der Verstakte zu stellen.
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7. Eine stehende Cäsur nach der Arsis des Daktylus ist nicht nötig, da p3b_239.036
sie auch bei Horaz nicht streng angewandt ist. Um so weniger ist diese Cäsur p3b_239.037
im Deutschen erforderlich, als der lateinischen, quantitierenden Sprache für p3b_239.038
Herstellung jener Cäsur spondeische und molossische Wörter vor, dagegen pyrrhichische p3b_239.039
und anapästische nach derselben in Menge zu Gebot stehen, während p3b_239.040
unserer accentuierenden deutschen Sprache die Wörter der letzteren Art fast ganz p3b_239.041
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