Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_204.001 p3b_204.003 p3b_204.011 p3b_204.014 p3b_204.020 p3b_204.026 p3b_204.032 p3b_204.035 p3b_204.038 p3b_204.041 p3b_204.001 p3b_204.003 p3b_204.011 p3b_204.014 p3b_204.020 p3b_204.026 p3b_204.032 p3b_204.035 p3b_204.038 p3b_204.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0230" n="204"/><lb n="p3b_204.001"/> herstellen, nachdem er ausgerechnet hat, wo die Pointe der einzelnen Zeile und <lb n="p3b_204.002"/> wo die der Strophe und endlich die des ganzen Gedichtes liegt.</p> <p><lb n="p3b_204.003"/> Dabei hat er zu beachten, was etwa im Original entbehrlicher Überfluß <lb n="p3b_204.004"/> (bloßes Ornament) ist, um es im Notfall bei der Übersetzung weglassen zu <lb n="p3b_204.005"/> können. Dies ist das Wichtigste: <hi rendition="#g">die Kunstgriffe des Originaldichters <lb n="p3b_204.006"/> erkennen, damit man nichts</hi> Wesentliches <hi rendition="#g">von den wirklichen Schönheiten <lb n="p3b_204.007"/> weglasse, sobald man genötigt ist wegen Verslänge oder <lb n="p3b_204.008"/> Reimstellung etwas aufzugeben.</hi> Besonders achtsam muß man bei der <lb n="p3b_204.009"/> Lyrik sein. Es handelt sich hier um die geistige und um die gemütliche Treue, <lb n="p3b_204.010"/> die unter der bloß wörtlichen Treue nur zu häufig leidet.</p> <p><lb n="p3b_204.011"/> 4. Der Übersetzer wird gut daran thun, das Urbild im ganzen und <lb n="p3b_204.012"/> großen sich geistig anzueignen, um es neu aus sich heraus entfalten zu können, <lb n="p3b_204.013"/> und manches verändert zu geben, ohne gegen dessen Geist zu verstoßen.</p> <p><lb n="p3b_204.014"/> Wer das Urbild in sich aufgenommen hat, wird die Sprache nicht unterjochen, <lb n="p3b_204.015"/> sondern dieselbe aus ihrer eigenen Fülle heraus entwickeln. Diejenigen, <lb n="p3b_204.016"/> welche das Urbild nur als fremdes fühlen oder dasselbe allzu modisch umformen, <lb n="p3b_204.017"/> sind in der Regel weder dem Urbilde noch der Sprache gewachsen. Jnneres <lb n="p3b_204.018"/> Aneignen des Kunstwerks ermöglicht innere freie Reproduktion, die von <lb n="p3b_204.019"/> dem großen Überblick und von dem Gefühl der Totalität ausgeht.</p> <p><lb n="p3b_204.020"/> 5. Kenntnis des Urbilds und der Sprache sind wesentlich für eine Darstellung, <lb n="p3b_204.021"/> welche die Übersetzung wie ein deutsches Original erscheinen läßt. <lb n="p3b_204.022"/> Wir verlangen nicht, daß die Übersetzung ganz und gar wie ein deutsches <lb n="p3b_204.023"/> Original erscheine, weil sie sonst Charakter und Geist des Urbilds mehr oder <lb n="p3b_204.024"/> weniger verlieren könnte; aber wir fordern, daß die Verschiedenheit keine solche <lb n="p3b_204.025"/> sei, die dem Geist der deutschen Sprache Eintrag thut.</p> <p><lb n="p3b_204.026"/> 6. Es genügt zum Übersetzer nicht die nur oberflächliche Kenntnis der <lb n="p3b_204.027"/> <hi rendition="#g">fremden Sprache,</hi> da ein wörtliches Übersetzen lediglich ein ungenießbares, <lb n="p3b_204.028"/> schwerfälliges Machwerk ergeben würde und jeder oberflächlich Gebildete Anspruch <lb n="p3b_204.029"/> erheben könnte, uns den Ariost, Byron, Camo<hi rendition="#aq">ë</hi>ns &c. zu vermitteln. Vielmehr <lb n="p3b_204.030"/> gehört zur Übersetzung eine <hi rendition="#g">gediegene</hi> Kenntnis der fremden Sprache, welche <lb n="p3b_204.031"/> das Vorbild weder verhüllt noch entstellt erblickt.</p> <p><lb n="p3b_204.032"/> 7. Aber auch eine gründliche Kenntnis der <hi rendition="#g">deutschen Sprache</hi> und <lb n="p3b_204.033"/> eine <hi rendition="#g">besondere Fähigkeit ihrer gewandten Handhabung</hi> muß für den <lb n="p3b_204.034"/> deutschen Übersetzer gefordert werden.</p> <p><lb n="p3b_204.035"/> 8. Wesentlich ist ferner das Verständnis der deutschen Metrik und Prosodik. <lb n="p3b_204.036"/> Der Übersetzer muß sich die Regeln und Gesetze der deutschen Poetik angeeignet <lb n="p3b_204.037"/> haben, um dichterische Form und Technik beherrschen zu können.</p> <p><lb n="p3b_204.038"/> 9. Der Übersetzer muß endlich die <hi rendition="#g">Litteratur</hi> des betreffenden Landes <lb n="p3b_204.039"/> seines Originals kennen, ferner dessen Dichtungen, Kriegsverfassung, Kultus und <lb n="p3b_204.040"/> Geschichte, besonders aber Mythologie.</p> <p><lb n="p3b_204.041"/> 10. Es genügt aber keineswegs eine nur allgemeine Kenntnis der Mythologie. <lb n="p3b_204.042"/> Jst doch jede Mythologie in den verschiedenen Entwickelungsstadien der <lb n="p3b_204.043"/> Sprache und Litteratur in steter Weiterbildung und in fortwährendem Fluß begriffen, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [204/0230]
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herstellen, nachdem er ausgerechnet hat, wo die Pointe der einzelnen Zeile und p3b_204.002
wo die der Strophe und endlich die des ganzen Gedichtes liegt.
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Dabei hat er zu beachten, was etwa im Original entbehrlicher Überfluß p3b_204.004
(bloßes Ornament) ist, um es im Notfall bei der Übersetzung weglassen zu p3b_204.005
können. Dies ist das Wichtigste: die Kunstgriffe des Originaldichters p3b_204.006
erkennen, damit man nichts Wesentliches von den wirklichen Schönheiten p3b_204.007
weglasse, sobald man genötigt ist wegen Verslänge oder p3b_204.008
Reimstellung etwas aufzugeben. Besonders achtsam muß man bei der p3b_204.009
Lyrik sein. Es handelt sich hier um die geistige und um die gemütliche Treue, p3b_204.010
die unter der bloß wörtlichen Treue nur zu häufig leidet.
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4. Der Übersetzer wird gut daran thun, das Urbild im ganzen und p3b_204.012
großen sich geistig anzueignen, um es neu aus sich heraus entfalten zu können, p3b_204.013
und manches verändert zu geben, ohne gegen dessen Geist zu verstoßen.
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Wer das Urbild in sich aufgenommen hat, wird die Sprache nicht unterjochen, p3b_204.015
sondern dieselbe aus ihrer eigenen Fülle heraus entwickeln. Diejenigen, p3b_204.016
welche das Urbild nur als fremdes fühlen oder dasselbe allzu modisch umformen, p3b_204.017
sind in der Regel weder dem Urbilde noch der Sprache gewachsen. Jnneres p3b_204.018
Aneignen des Kunstwerks ermöglicht innere freie Reproduktion, die von p3b_204.019
dem großen Überblick und von dem Gefühl der Totalität ausgeht.
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5. Kenntnis des Urbilds und der Sprache sind wesentlich für eine Darstellung, p3b_204.021
welche die Übersetzung wie ein deutsches Original erscheinen läßt. p3b_204.022
Wir verlangen nicht, daß die Übersetzung ganz und gar wie ein deutsches p3b_204.023
Original erscheine, weil sie sonst Charakter und Geist des Urbilds mehr oder p3b_204.024
weniger verlieren könnte; aber wir fordern, daß die Verschiedenheit keine solche p3b_204.025
sei, die dem Geist der deutschen Sprache Eintrag thut.
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6. Es genügt zum Übersetzer nicht die nur oberflächliche Kenntnis der p3b_204.027
fremden Sprache, da ein wörtliches Übersetzen lediglich ein ungenießbares, p3b_204.028
schwerfälliges Machwerk ergeben würde und jeder oberflächlich Gebildete Anspruch p3b_204.029
erheben könnte, uns den Ariost, Byron, Camoëns &c. zu vermitteln. Vielmehr p3b_204.030
gehört zur Übersetzung eine gediegene Kenntnis der fremden Sprache, welche p3b_204.031
das Vorbild weder verhüllt noch entstellt erblickt.
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7. Aber auch eine gründliche Kenntnis der deutschen Sprache und p3b_204.033
eine besondere Fähigkeit ihrer gewandten Handhabung muß für den p3b_204.034
deutschen Übersetzer gefordert werden.
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8. Wesentlich ist ferner das Verständnis der deutschen Metrik und Prosodik. p3b_204.036
Der Übersetzer muß sich die Regeln und Gesetze der deutschen Poetik angeeignet p3b_204.037
haben, um dichterische Form und Technik beherrschen zu können.
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9. Der Übersetzer muß endlich die Litteratur des betreffenden Landes p3b_204.039
seines Originals kennen, ferner dessen Dichtungen, Kriegsverfassung, Kultus und p3b_204.040
Geschichte, besonders aber Mythologie.
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10. Es genügt aber keineswegs eine nur allgemeine Kenntnis der Mythologie. p3b_204.042
Jst doch jede Mythologie in den verschiedenen Entwickelungsstadien der p3b_204.043
Sprache und Litteratur in steter Weiterbildung und in fortwährendem Fluß begriffen,
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