Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_187.001 p3b_187.029 p3b_187.042 p3b_187.001 p3b_187.029 p3b_187.042 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0213" n="187"/><lb n="p3b_187.001"/> (Odyssee 1781; Homers Werke 1793.) Dichter und Gelehrter zugleich <lb n="p3b_187.002"/> erstrebte er vor allem <hi rendition="#g">Treue</hi> in der Übersetzung. Wort für Wort übertrug <lb n="p3b_187.003"/> er das Original, und er suchte schöpferisch selbst den griechischen Wendungen <lb n="p3b_187.004"/> und Wortbildungen gerecht zu werden. So wurde seine Versbildung charakteristisch, <lb n="p3b_187.005"/> originell, freilich häufig ungelenk, steif, hölzern, undeutsch. (Jch erwähne <lb n="p3b_187.006"/> u. a. nur der <hi rendition="#g">helmumflatterte</hi> Hektor (7, 234), <hi rendition="#g">hellumschiente</hi> <lb n="p3b_187.007"/> Achaier (1, 17), der <hi rendition="#g">Vermischer</hi> (5, 903), <hi rendition="#g">mir nicht ist's anartend</hi> <lb n="p3b_187.008"/> (5, 253) u. s. w.) Durch Einfügung von Trochäen und Spondeen gab er <lb n="p3b_187.009"/> seinem Hexameter einen dem Original entsprechenden, nicht hastenden, epischen <lb n="p3b_187.010"/> Gang. Den männlichen Gang des homerischen Hexameters, der im 4. Takt <lb n="p3b_187.011"/> auch keine weibliche Cäsur hat, erreichte er durch die männliche (epische oder <lb n="p3b_187.012"/> heroische) Cäsur im 3. oder 4. Takt. Auch die sogenannte bukolische Cäsur <lb n="p3b_187.013"/> (die nach <hi rendition="#aq">I</hi>. 350 dieser Poetik richtiger bukolische Diärese zu nennen ist) wendet <lb n="p3b_187.014"/> er nach Homers Vorgang an u. s. w. So widerlegte er die Ansicht Lessings <lb n="p3b_187.015"/> von der Unübersetzbarkeit des Homer; so wurde er der <hi rendition="#g">Begründer der <lb n="p3b_187.016"/> deutschen Übersetzungskunst</hi> und ─ mit seinen weiter unten zu erwähnenden <lb n="p3b_187.017"/> Übersetzungen aus dem Lateinischen ─ der <hi rendition="#g">hervorragendste <lb n="p3b_187.018"/> Übersetzungsmeister aller Zeiten.</hi> Er war es, der den Deutschen erstmals <lb n="p3b_187.019"/> einen deutschen Homer gab, und der eben damit der Bildung des Jahrhunderts <lb n="p3b_187.020"/> den herrlichen Jnhalt des klassischen Altertums in würdiger Weise <lb n="p3b_187.021"/> wie durch einen Zauberschlag erschloß. Er bewies durch die That, was unsere <lb n="p3b_187.022"/> elastische Sprache zu leisten imstande ist. Goethe sagt daher mit Recht (im <lb n="p3b_187.023"/> westöstlichen Divan): „Wer jetzt übersieht, was geschehen ist, welche Versatilität <lb n="p3b_187.024"/> unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische Vorteile <lb n="p3b_187.025"/> dem geistreich talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun Ariost und Tasso, <lb n="p3b_187.026"/> Shakespeare und Calderon, als eingedeutschte Fremde, uns doppelt und dreifach <lb n="p3b_187.027"/> vorgeführt werden, der darf hoffen, daß die Litteraturgeschichte unbewunden <lb n="p3b_187.028"/> aussprechen werde, wer diesen Weg unter mancherlei Hindernissen zuerst einschlug!“</p> <p><lb n="p3b_187.029"/><hi rendition="#g">Schlegel</hi> (wie Voß ─ zugleich Dichter und Philologe) hat in Wiedergabe <lb n="p3b_187.030"/> (Übersetzung) des Maßes weiter bewiesen, wie <hi rendition="#g">die Elegie und das elegische</hi> <lb n="p3b_187.031"/> Distichon zu behandeln sind. Um das antike Prinzip durchzuführen, hat er mitunter <lb n="p3b_187.032"/> eine wunderliche Prosodik beliebt, indem er trochäische oder jambische Satztakte <lb n="p3b_187.033"/> (z. B. „wiewohl“) als Spondeen anwandte u. s. w. Seinem späteren Verbannungsedikt <lb n="p3b_187.034"/> des von ihm ursprünglich angewandten Trochäus aus dem deutschen <lb n="p3b_187.035"/> Hexameter neigten sich viele Philologen in ihren Übersetzungen freilich ohne endgültigen <lb n="p3b_187.036"/> Erfolg zu. Sein kaum 500 Hexameter umfassendes Beispiel (die Elegie <lb n="p3b_187.037"/> „Rom“) liefert noch nicht den praktischen vollgültigen Beweis für die Durchführbarkeit <lb n="p3b_187.038"/> des antiken Spondeus, während der Übersetzer Voß in 70 000 Hexametern <lb n="p3b_187.039"/> die Berechtigung des Trochäus im deutschen Hexameter praktisch und <lb n="p3b_187.040"/> glanzvoll beweist. Hiezu kommt, daß Schlegels freie Bearbeitung mit Voßens <lb n="p3b_187.041"/> Übersetzungen in Hinsicht auf Schwierigkeit gar nicht verglichen werden kann.</p> <p><lb n="p3b_187.042"/> Auch die ersten hundert Verse der <hi rendition="#g">Odyssee</hi> in trochäusfreien Versen, mit <lb n="p3b_187.043"/> denen <hi rendition="#g">Fr. Aug. Wolf</hi> auf die Seite Schlegels trat, konnten höchstens den <lb n="p3b_187.044"/> Versifikator beweisen. Jhnen mangelt Voßischer Fluß; sie vernachlässigen die </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [187/0213]
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(Odyssee 1781; Homers Werke 1793.) Dichter und Gelehrter zugleich p3b_187.002
erstrebte er vor allem Treue in der Übersetzung. Wort für Wort übertrug p3b_187.003
er das Original, und er suchte schöpferisch selbst den griechischen Wendungen p3b_187.004
und Wortbildungen gerecht zu werden. So wurde seine Versbildung charakteristisch, p3b_187.005
originell, freilich häufig ungelenk, steif, hölzern, undeutsch. (Jch erwähne p3b_187.006
u. a. nur der helmumflatterte Hektor (7, 234), hellumschiente p3b_187.007
Achaier (1, 17), der Vermischer (5, 903), mir nicht ist's anartend p3b_187.008
(5, 253) u. s. w.) Durch Einfügung von Trochäen und Spondeen gab er p3b_187.009
seinem Hexameter einen dem Original entsprechenden, nicht hastenden, epischen p3b_187.010
Gang. Den männlichen Gang des homerischen Hexameters, der im 4. Takt p3b_187.011
auch keine weibliche Cäsur hat, erreichte er durch die männliche (epische oder p3b_187.012
heroische) Cäsur im 3. oder 4. Takt. Auch die sogenannte bukolische Cäsur p3b_187.013
(die nach I. 350 dieser Poetik richtiger bukolische Diärese zu nennen ist) wendet p3b_187.014
er nach Homers Vorgang an u. s. w. So widerlegte er die Ansicht Lessings p3b_187.015
von der Unübersetzbarkeit des Homer; so wurde er der Begründer der p3b_187.016
deutschen Übersetzungskunst und ─ mit seinen weiter unten zu erwähnenden p3b_187.017
Übersetzungen aus dem Lateinischen ─ der hervorragendste p3b_187.018
Übersetzungsmeister aller Zeiten. Er war es, der den Deutschen erstmals p3b_187.019
einen deutschen Homer gab, und der eben damit der Bildung des Jahrhunderts p3b_187.020
den herrlichen Jnhalt des klassischen Altertums in würdiger Weise p3b_187.021
wie durch einen Zauberschlag erschloß. Er bewies durch die That, was unsere p3b_187.022
elastische Sprache zu leisten imstande ist. Goethe sagt daher mit Recht (im p3b_187.023
westöstlichen Divan): „Wer jetzt übersieht, was geschehen ist, welche Versatilität p3b_187.024
unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische Vorteile p3b_187.025
dem geistreich talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun Ariost und Tasso, p3b_187.026
Shakespeare und Calderon, als eingedeutschte Fremde, uns doppelt und dreifach p3b_187.027
vorgeführt werden, der darf hoffen, daß die Litteraturgeschichte unbewunden p3b_187.028
aussprechen werde, wer diesen Weg unter mancherlei Hindernissen zuerst einschlug!“
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Schlegel (wie Voß ─ zugleich Dichter und Philologe) hat in Wiedergabe p3b_187.030
(Übersetzung) des Maßes weiter bewiesen, wie die Elegie und das elegische p3b_187.031
Distichon zu behandeln sind. Um das antike Prinzip durchzuführen, hat er mitunter p3b_187.032
eine wunderliche Prosodik beliebt, indem er trochäische oder jambische Satztakte p3b_187.033
(z. B. „wiewohl“) als Spondeen anwandte u. s. w. Seinem späteren Verbannungsedikt p3b_187.034
des von ihm ursprünglich angewandten Trochäus aus dem deutschen p3b_187.035
Hexameter neigten sich viele Philologen in ihren Übersetzungen freilich ohne endgültigen p3b_187.036
Erfolg zu. Sein kaum 500 Hexameter umfassendes Beispiel (die Elegie p3b_187.037
„Rom“) liefert noch nicht den praktischen vollgültigen Beweis für die Durchführbarkeit p3b_187.038
des antiken Spondeus, während der Übersetzer Voß in 70 000 Hexametern p3b_187.039
die Berechtigung des Trochäus im deutschen Hexameter praktisch und p3b_187.040
glanzvoll beweist. Hiezu kommt, daß Schlegels freie Bearbeitung mit Voßens p3b_187.041
Übersetzungen in Hinsicht auf Schwierigkeit gar nicht verglichen werden kann.
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Auch die ersten hundert Verse der Odyssee in trochäusfreien Versen, mit p3b_187.043
denen Fr. Aug. Wolf auf die Seite Schlegels trat, konnten höchstens den p3b_187.044
Versifikator beweisen. Jhnen mangelt Voßischer Fluß; sie vernachlässigen die
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