Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_183.001 p3b_183.006 p3b_183.023 p3b_183.027 p3b_183.001 p3b_183.006 p3b_183.023 p3b_183.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0209" n="183"/><lb n="p3b_183.001"/> und Unmittelbarkeit ihrer Anschauungen ausprägen, enthält derselbe doch auch <lb n="p3b_183.002"/> genug Ausdrücke, welche von sprachlicher Schwerfälligkeit, Schlaffheit, Nachlässigkeit <lb n="p3b_183.003"/> &c. herrühren; ─ und nur ein feinfühliger Dichter wird mit sicherem <lb n="p3b_183.004"/> Griffe das Gediegene, Edle, Anmutige des Dialekts in das Reich der Poesie <lb n="p3b_183.005"/> einzuführen vermögen.</p> <p><lb n="p3b_183.006"/> Sodann muß der Dialektdichter Meister der Form werden und ─ eingedenk <lb n="p3b_183.007"/> der Wahrheit, daß das Beste für das Volk gut genug ist ─ diese <lb n="p3b_183.008"/> Form nimmermehr mit gemeinem Jnhalt vermählen. Auch in der Dialektpoesie <lb n="p3b_183.009"/> ist der schönen Form ein hoher Vorzug einzuräumen, weshalb wir der Behauptung <lb n="p3b_183.010"/> widersprechen, daß sich die Dialektdichtung auf die primitivste Form <lb n="p3b_183.011"/> zu beschränken habe, nur weil meist Unberufene darin ihr Wesen trieben. <lb n="p3b_183.012"/> Verschiedene Dialektdichter (vgl. Hebel, der sogar fremde Formen anwandte, <lb n="p3b_183.013"/> Seidl, der allein 400 prächtige Vierzeilen schrieb, Rosegger, Reuter u. a.) <lb n="p3b_183.014"/> haben gezeigt, daß dem Dialektgedicht von tüchtiger Hand auch recht wohl <lb n="p3b_183.015"/> künstliche Verse und Strophen verliehen werden können. Der Veranlasser muß <lb n="p3b_183.016"/> eben <hi rendition="#g">Dichter</hi> sein, der sie in seiner Gewalt hat, um auch bei schwierigen <lb n="p3b_183.017"/> Formen (vgl. z. B. Grimmingers Nachtgang in „Moi Derhoim“) freundliche <lb n="p3b_183.018"/> Gebilde zu bieten. Man darf dem Dialektdichter nicht anmerken, daß seine <lb n="p3b_183.019"/> Arbeit eine mühevolle war, daß sein spröder Stoff Risse bekommen habe und <lb n="p3b_183.020"/> nun notdürftig übertüncht wurde. Form und Stoff müssen in ungezwungener, <lb n="p3b_183.021"/> naturgemäßer Weise harmonieren. Wo dies nicht der Fall ist, wird der Dichter <lb n="p3b_183.022"/> über seine Grenzen hinausgeschritten sein.</p> <p><lb n="p3b_183.023"/> Mancher Dialektdichter liebt es, im Gedichte banale Witze, Späße &c. <lb n="p3b_183.024"/> anzubringen. Dies kann jedoch nur auf Kosten der Poesie und des guten <lb n="p3b_183.025"/> Geschmacks geschehen und liegt sicherlich außerhalb der Mission des Dialektgedichts.</p> <lb n="p3b_183.026"/> <p><lb n="p3b_183.027"/> Nicht Witzbold soll der Dialektdichter sein, wohl aber Humorist; nicht <lb n="p3b_183.028"/> Verstand, sondern Herz und Gemüt sollen im Dialektgedicht ihre Lichter <lb n="p3b_183.029"/> spielen lassen. Wo daher die Dialektpoesie statt mangelhafter Reimpaare und <lb n="p3b_183.030"/> zweifelhafter Späße gutgeformte Poesie und gemütreichen Humor bietet, da wird <lb n="p3b_183.031"/> sie sich dem herzigen, tiefgründigen Volksliede nähern und gleich demselben jenen <lb n="p3b_183.032"/> Reiz entfalten, welchen (nach Goethe) dasselbe auch auf den ausübt, der auf <lb n="p3b_183.033"/> höherer Bildungsstufe steht, so ungefähr, wie der Anblick und die Erinnerung <lb n="p3b_183.034"/> der Jugend ihn fürs Alter haben. Jm Grunde genommen schreiben unsere <lb n="p3b_183.035"/> Dialektdichter auch ihre Poesien nur für die gebildeten Kreise. Und wenn sich <lb n="p3b_183.036"/> die Nachfolger dies stets vergegenwärtigen wollten, so würden sie infolge ihrer <lb n="p3b_183.037"/> höheren Aufgabe und ihres ernsteren Auditoriums ihre Gebilde nach den Gesetzen <lb n="p3b_183.038"/> des Schönen bleibendem Genusse weihen.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [183/0209]
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und Unmittelbarkeit ihrer Anschauungen ausprägen, enthält derselbe doch auch p3b_183.002
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&c. herrühren; ─ und nur ein feinfühliger Dichter wird mit sicherem p3b_183.004
Griffe das Gediegene, Edle, Anmutige des Dialekts in das Reich der Poesie p3b_183.005
einzuführen vermögen.
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Sodann muß der Dialektdichter Meister der Form werden und ─ eingedenk p3b_183.007
der Wahrheit, daß das Beste für das Volk gut genug ist ─ diese p3b_183.008
Form nimmermehr mit gemeinem Jnhalt vermählen. Auch in der Dialektpoesie p3b_183.009
ist der schönen Form ein hoher Vorzug einzuräumen, weshalb wir der Behauptung p3b_183.010
widersprechen, daß sich die Dialektdichtung auf die primitivste Form p3b_183.011
zu beschränken habe, nur weil meist Unberufene darin ihr Wesen trieben. p3b_183.012
Verschiedene Dialektdichter (vgl. Hebel, der sogar fremde Formen anwandte, p3b_183.013
Seidl, der allein 400 prächtige Vierzeilen schrieb, Rosegger, Reuter u. a.) p3b_183.014
haben gezeigt, daß dem Dialektgedicht von tüchtiger Hand auch recht wohl p3b_183.015
künstliche Verse und Strophen verliehen werden können. Der Veranlasser muß p3b_183.016
eben Dichter sein, der sie in seiner Gewalt hat, um auch bei schwierigen p3b_183.017
Formen (vgl. z. B. Grimmingers Nachtgang in „Moi Derhoim“) freundliche p3b_183.018
Gebilde zu bieten. Man darf dem Dialektdichter nicht anmerken, daß seine p3b_183.019
Arbeit eine mühevolle war, daß sein spröder Stoff Risse bekommen habe und p3b_183.020
nun notdürftig übertüncht wurde. Form und Stoff müssen in ungezwungener, p3b_183.021
naturgemäßer Weise harmonieren. Wo dies nicht der Fall ist, wird der Dichter p3b_183.022
über seine Grenzen hinausgeschritten sein.
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Mancher Dialektdichter liebt es, im Gedichte banale Witze, Späße &c. p3b_183.024
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Geschmacks geschehen und liegt sicherlich außerhalb der Mission des Dialektgedichts.
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Nicht Witzbold soll der Dialektdichter sein, wohl aber Humorist; nicht p3b_183.028
Verstand, sondern Herz und Gemüt sollen im Dialektgedicht ihre Lichter p3b_183.029
spielen lassen. Wo daher die Dialektpoesie statt mangelhafter Reimpaare und p3b_183.030
zweifelhafter Späße gutgeformte Poesie und gemütreichen Humor bietet, da wird p3b_183.031
sie sich dem herzigen, tiefgründigen Volksliede nähern und gleich demselben jenen p3b_183.032
Reiz entfalten, welchen (nach Goethe) dasselbe auch auf den ausübt, der auf p3b_183.033
höherer Bildungsstufe steht, so ungefähr, wie der Anblick und die Erinnerung p3b_183.034
der Jugend ihn fürs Alter haben. Jm Grunde genommen schreiben unsere p3b_183.035
Dialektdichter auch ihre Poesien nur für die gebildeten Kreise. Und wenn sich p3b_183.036
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des Schönen bleibendem Genusse weihen.
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