Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_176.001 p3b_176.016 p3b_176.019 p3b_176.025 § 71. Hinneigen unserer Dichter zu dialektischen Formen. p3b_176.026 p3b_176.041 p3b_176.001 p3b_176.016 p3b_176.019 p3b_176.025 § 71. Hinneigen unserer Dichter zu dialektischen Formen. p3b_176.026 p3b_176.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0202" n="176"/><lb n="p3b_176.001"/> Volksgeist feierte seine Auferstehung. Mit dieser Würdigung des Volkstümlichen <lb n="p3b_176.002"/> stieg der Dialekt rasch im Ansehen. Unsere bedeutendsten Dichter ─ besonders <lb n="p3b_176.003"/> aber Goethe ─ haben die urwüchsige Kraft der Volksseele erkannt und manche <lb n="p3b_176.004"/> Eroberung auf diesem Gebiete gemacht. Eine stolze Reihe von Dialekt-Dichtungen <lb n="p3b_176.005"/> ─ von J. H. Voß' niedersächsischen Jdyllen über J. P. Hebel, Grübel, <lb n="p3b_176.006"/> Sailer, Weitzmann, Nadler, Castelli, J. G. Seidl, Kobell, Schandein, Stelzhamer, <lb n="p3b_176.007"/> Stoltze, Holtei, Corrodi, Grimminger, Klesheim, Storck, L. Eichrodt, <lb n="p3b_176.008"/> Grasberger, Rosegger u. a. hinüber bis zu den allgelesenen Poesien Fritz <lb n="p3b_176.009"/> Reuters, Kl. Groths u. a. ─ bewies dem Sehenden, welche Fülle von <lb n="p3b_176.010"/> Traulichkeit, Naivetät, jugendlicher Frische, welch' ungezählter Reichtum von <lb n="p3b_176.011"/> individuellen, unübersetzbaren Wörtern, welch' unerschöpflicher Vorrat plastischer, <lb n="p3b_176.012"/> kerniger Formen und Begriffe, welche große Menge sinnlich bedeutender, flüssiger <lb n="p3b_176.013"/> Worte, Elemente und lebhafter Formen zu einem, oft den Bücherstil überragenden <lb n="p3b_176.014"/> besonderen Stil hier zusammengedrängt sind, ja, welche volltönende <lb n="p3b_176.015"/> Weichheit, Herzlichkeit und humoristische Munterkeit die Dialekte besitzen.</p> <p><lb n="p3b_176.016"/> Die Dialektpoesie verdient daher nicht bloß benützt, sondern (wie dies <lb n="p3b_176.017"/> Goethe, Uhland, Mörike, Rückert u. a. gezeigt haben) auch ausgebeutet zu <lb n="p3b_176.018"/> werden.</p> <p><lb n="p3b_176.019"/> Aus diesem Grunde dürfte es nicht unverdienstlich sein, wenn wir endlich <lb n="p3b_176.020"/> dem Dichter eine Bahn für Verständnis der Dialektpoesie zu brechen suchen, <lb n="p3b_176.021"/> indem wir vorerst Grundsätze, Winke, Kunstgriffe und Charakteristisches aus dem <lb n="p3b_176.022"/> bis jetzt vorliegenden Material der Dialektpoesie entrollen, um durch ─ so zu <lb n="p3b_176.023"/> sagen ─ aphoristische Bemerkungen zu richtigen Stand- und Gesichtspunkten <lb n="p3b_176.024"/> über Benützung und Ausbeutung anzuregen.</p> </div> <div n="2"> <lb n="p3b_176.025"/> <head> <hi rendition="#c">§ 71. Hinneigen unserer Dichter zu dialektischen Formen.</hi> </head> <p><lb n="p3b_176.026"/> Die ersten Lieder, welche aus dem Drange des Volkes als geistige Bilder <lb n="p3b_176.027"/> seines Wesens und Treibens entstanden, lebten lange <hi rendition="#g">vor</hi> Entstehung einer <lb n="p3b_176.028"/> Schriftsprache als Gemeingut des Volks durch ihren volkstümlichen Jnhalt wie <lb n="p3b_176.029"/> durch ihre (Form und Gedanken zusammenhaltende) sangbare Melodie. Da <lb n="p3b_176.030"/> diese Lieder nach Erstehung einer gemeinsamen, nationalen Schriftsprache nicht <lb n="p3b_176.031"/> schriftlich aufgezeichnet wurden, sondern nur in mündlicher Überlieferung sich <lb n="p3b_176.032"/> erhielten, so trugen sie auch noch in den Zeiten der dialekt=abschleifenden Schriftsprache <lb n="p3b_176.033"/> das Gepräge ihres dialektischen Ursprungs. Als man sodann begann. <lb n="p3b_176.034"/> diese Volkslieder in hochdeutscher Sprache zu fixieren, ja, als Volkslieder in <lb n="p3b_176.035"/> hochdeutscher Sprache gedichtet und gesungen wurden, da hat sich die Macht <lb n="p3b_176.036"/> der alten Dialektlieder durch Beibehaltung oder Aufnahme mundartlicher Anklänge <lb n="p3b_176.037"/> bewährt, da hat man mit Vorliebe zu gleichsam paläontologischen Überresten <lb n="p3b_176.038"/> aus der Zeit der Dialekte gegriffen, welche nunmehr wie zu Versteinerungen <lb n="p3b_176.039"/> gewordene Bilder uns an die Wiege der Großeltern und in naive Zeiten <lb n="p3b_176.040"/> schöner, unentweihter Volksanschauungen zurückführen und erinnern.</p> <p><lb n="p3b_176.041"/> Unsere besten Dichter von Goethe bis in die Neuzeit haben manchen ihrer <lb n="p3b_176.042"/> Lieder volksmäßiges Gepräge zu verleihen gesucht, indem sie dieselben den </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [176/0202]
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Volksgeist feierte seine Auferstehung. Mit dieser Würdigung des Volkstümlichen p3b_176.002
stieg der Dialekt rasch im Ansehen. Unsere bedeutendsten Dichter ─ besonders p3b_176.003
aber Goethe ─ haben die urwüchsige Kraft der Volksseele erkannt und manche p3b_176.004
Eroberung auf diesem Gebiete gemacht. Eine stolze Reihe von Dialekt-Dichtungen p3b_176.005
─ von J. H. Voß' niedersächsischen Jdyllen über J. P. Hebel, Grübel, p3b_176.006
Sailer, Weitzmann, Nadler, Castelli, J. G. Seidl, Kobell, Schandein, Stelzhamer, p3b_176.007
Stoltze, Holtei, Corrodi, Grimminger, Klesheim, Storck, L. Eichrodt, p3b_176.008
Grasberger, Rosegger u. a. hinüber bis zu den allgelesenen Poesien Fritz p3b_176.009
Reuters, Kl. Groths u. a. ─ bewies dem Sehenden, welche Fülle von p3b_176.010
Traulichkeit, Naivetät, jugendlicher Frische, welch' ungezählter Reichtum von p3b_176.011
individuellen, unübersetzbaren Wörtern, welch' unerschöpflicher Vorrat plastischer, p3b_176.012
kerniger Formen und Begriffe, welche große Menge sinnlich bedeutender, flüssiger p3b_176.013
Worte, Elemente und lebhafter Formen zu einem, oft den Bücherstil überragenden p3b_176.014
besonderen Stil hier zusammengedrängt sind, ja, welche volltönende p3b_176.015
Weichheit, Herzlichkeit und humoristische Munterkeit die Dialekte besitzen.
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Die Dialektpoesie verdient daher nicht bloß benützt, sondern (wie dies p3b_176.017
Goethe, Uhland, Mörike, Rückert u. a. gezeigt haben) auch ausgebeutet zu p3b_176.018
werden.
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Aus diesem Grunde dürfte es nicht unverdienstlich sein, wenn wir endlich p3b_176.020
dem Dichter eine Bahn für Verständnis der Dialektpoesie zu brechen suchen, p3b_176.021
indem wir vorerst Grundsätze, Winke, Kunstgriffe und Charakteristisches aus dem p3b_176.022
bis jetzt vorliegenden Material der Dialektpoesie entrollen, um durch ─ so zu p3b_176.023
sagen ─ aphoristische Bemerkungen zu richtigen Stand- und Gesichtspunkten p3b_176.024
über Benützung und Ausbeutung anzuregen.
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§ 71. Hinneigen unserer Dichter zu dialektischen Formen. p3b_176.026
Die ersten Lieder, welche aus dem Drange des Volkes als geistige Bilder p3b_176.027
seines Wesens und Treibens entstanden, lebten lange vor Entstehung einer p3b_176.028
Schriftsprache als Gemeingut des Volks durch ihren volkstümlichen Jnhalt wie p3b_176.029
durch ihre (Form und Gedanken zusammenhaltende) sangbare Melodie. Da p3b_176.030
diese Lieder nach Erstehung einer gemeinsamen, nationalen Schriftsprache nicht p3b_176.031
schriftlich aufgezeichnet wurden, sondern nur in mündlicher Überlieferung sich p3b_176.032
erhielten, so trugen sie auch noch in den Zeiten der dialekt=abschleifenden Schriftsprache p3b_176.033
das Gepräge ihres dialektischen Ursprungs. Als man sodann begann. p3b_176.034
diese Volkslieder in hochdeutscher Sprache zu fixieren, ja, als Volkslieder in p3b_176.035
hochdeutscher Sprache gedichtet und gesungen wurden, da hat sich die Macht p3b_176.036
der alten Dialektlieder durch Beibehaltung oder Aufnahme mundartlicher Anklänge p3b_176.037
bewährt, da hat man mit Vorliebe zu gleichsam paläontologischen Überresten p3b_176.038
aus der Zeit der Dialekte gegriffen, welche nunmehr wie zu Versteinerungen p3b_176.039
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schöner, unentweihter Volksanschauungen zurückführen und erinnern.
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Unsere besten Dichter von Goethe bis in die Neuzeit haben manchen ihrer p3b_176.042
Lieder volksmäßiges Gepräge zu verleihen gesucht, indem sie dieselben den
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