p2b_526.001 Erst in Tristan, den Meistersängern und besonders dem Ring der Nibelungen p2b_526.002 wurde der spekulierende Ästhetiker von dem Dichterkomponisten eingeholt p2b_526.003 und sein längst geweissagtes Jdeal zur Erscheinung gebracht. Nicht allein in p2b_526.004 den Stimmen, sondern auch in der malenden und schildernden Musikbegleitungp2b_526.005 liegt hier der Schwerpunkt. Während in den Ersteren der p2b_526.006 realistischen Deutung jedes einzelnen Wortes nachgejagt wird, während sie p2b_526.007 sich in unendlicher Melodie tummeln, verspinnt hier das Orchester seine wahrhaft p2b_526.008 narkotischen Klangeffekte und seine in der Chromatik und Enharmonik p2b_526.009 schwelgende Modulation! Die aus der Anspannung des dramatischen Prinzips p2b_526.010 sich ergebenden Konsequenzen treten namentlich in Tristan und Jsolde, wie in p2b_526.011 den Meistersängern hervor. Tristan und Jsolde gewährte dem Komponisten p2b_526.012 freien Spielraum in der Charakterentfaltung: der wichtigste Faktor liegt hier p2b_526.013 im Orchester, auf dessen Rechnung kommt, was als musikalische Substanz des p2b_526.014 ganzen Werkes zu betrachten ist.
p2b_526.015 Von großartiger Wirkung im Tristan ist das große Liebesduett des 2. Akts. p2b_526.016 Da ist Fluß, Wohllaut, verführerisches Weben und Wogen der Töne, innige p2b_526.017 Melodie, die selbst die Gegner anerkennen müssen. Die Jnstrumente deuten p2b_526.018 die verborgensten Geheimnisse des dargestellten und gesungenen Liebesgenusses p2b_526.019 an. Mit ihren süßesten, wollusttrunkensten Klängen umschmeicheln sie das p2b_526.020 Ohr. Genial zeigt sich Wagners Muse in der leidumflorten Erwiderung p2b_526.021 Tristans: O König, das kann ich Dir nicht sagen u. s. w. Der 3. Akt ist p2b_526.022 besonders großartig wirkend. Das einleitende ausdrucksvolle Vorspiel ist einzig p2b_526.023 schön. (Man vgl. das Verlangen des Kranken nach seiner Ärztin, den aufjubelnden p2b_526.024 Reigen des Hirten, die malerische Schilderung des an der Klippe p2b_526.025 mühsam vorbeisteuernden Schiffes, dessen Flagge und Wimpel die flatternden p2b_526.026 Flötenpassagen entrollen, die jauchzende Lust des Orchesters bei der Landung &c.)
p2b_526.027 Zum Ergreifendsten des ganzen Werks gehört Jsoldens Schwanenlied. Da p2b_526.028 ist deutscher Stil, deutscher Charakter, der schon bei nur geringer Bekanntschaft p2b_526.029 mit Wagner erwärmen muß.
p2b_526.030 2. Ein wichtiges Kriterium für Würdigung Wagners sind seine Leitmotive, p2b_526.031 welche die innerste Natur der im mythischen Drama auftretenden Gestalten versinnlichen p2b_526.032 und die logische Verbindung des musikalischen Dialogs vermitteln. p2b_526.033 Sie haben die Bestimmung, die Harmonie für jede einzelne Empfindungsphase p2b_526.034 im Leben jeder einzelnen Person zu entwickeln, ebenso wie sich aus p2b_526.035 dem feststehenden menschlichen Charakter die Handlungen einzeln entwickeln. p2b_526.036 Jm Tristan und Jsolde sind sie selten. Eine so große Fülle von Leitmotiven p2b_526.037 wie in den Meistersängern schließt hier schon die einfache Handlung aus. Hier p2b_526.038 ist alles auf Entwickelung der auf den Liebestrank deutenden Figur abgesehen. p2b_526.039 Trotzdem begegnen wir diesem chromatisch gewundenen, mit prickelndem Vorhalten p2b_526.040 und wählerischen Dissonanzen freigebigen Thema sehr häufig: bald unten in p2b_526.041 der Begleitung arbeitend, bald siegreich sich in die Melodie schwingend.
p2b_526.042 Neben demselben finden wir das an den Abendstern im Tannhäuserp2b_526.043 erinnernde Motiv, die von der Macht der Liebe erfüllten Töne und die schwermutatmende p2b_526.044 Melodie des Hirten, die von besonderem musikalischem Reiz sind.
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p2b_526.027 Zum Ergreifendsten des ganzen Werks gehört Jsoldens Schwanenlied. Da p2b_526.028 ist deutscher Stil, deutscher Charakter, der schon bei nur geringer Bekanntschaft p2b_526.029 mit Wagner erwärmen muß.
p2b_526.030 2. Ein wichtiges Kriterium für Würdigung Wagners sind seine Leitmotive, p2b_526.031 welche die innerste Natur der im mythischen Drama auftretenden Gestalten versinnlichen p2b_526.032 und die logische Verbindung des musikalischen Dialogs vermitteln. p2b_526.033 Sie haben die Bestimmung, die Harmonie für jede einzelne Empfindungsphase p2b_526.034 im Leben jeder einzelnen Person zu entwickeln, ebenso wie sich aus p2b_526.035 dem feststehenden menschlichen Charakter die Handlungen einzeln entwickeln. p2b_526.036 Jm Tristan und Jsolde sind sie selten. Eine so große Fülle von Leitmotiven p2b_526.037 wie in den Meistersängern schließt hier schon die einfache Handlung aus. Hier p2b_526.038 ist alles auf Entwickelung der auf den Liebestrank deutenden Figur abgesehen. p2b_526.039 Trotzdem begegnen wir diesem chromatisch gewundenen, mit prickelndem Vorhalten p2b_526.040 und wählerischen Dissonanzen freigebigen Thema sehr häufig: bald unten in p2b_526.041 der Begleitung arbeitend, bald siegreich sich in die Melodie schwingend.
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/548>, abgerufen am 23.11.2024.
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