p2b_457.001 Euripides ging über ihn hinaus. Er gab der leidenschaftsvollen Entwickelung p2b_457.002 des menschlichen Gemüts Raum und führte den Schluß zuweilen p2b_457.003 durch besondere Hülfe (deus ex machina) herbei.
p2b_457.004 Die antike Tragödie konnte das in unserer Tragödie zu Entwickelnde p2b_457.005 meist voraussetzen, sofern dasselbe durch Mythus und Geschichte feststehend war. p2b_457.006 Somit bot sie nur das, was uns heutzutage Peripetie und Katastrophe bieten; p2b_457.007 alles Übrige vermittelte der Prolog.
p2b_457.008 Der griechische Chor. Wesentlich war für die griechische Tragödie, wie p2b_457.009 überhaupt für das griechische Drama, der Chor, der mit der eigentlichen Handlung p2b_457.010 nichts zu schaffen hatte, vielmehr das öffentliche Gewissen zum Ausdruck p2b_457.011 bringen sollte. Er wurde repräsentiert durch eine Reihe von Personen, welche p2b_457.012 in dem zwischen dem Zuschauer und der Bühne befindlichen Raum ihren Platz p2b_457.013 hatten und zuweilen die Handlung durch Gesang, Musik, Tanz &c. unterbrachen. p2b_457.014 Seine Aufgabe war es, hinzuleiten auf die wahre und eigentliche Wirkung p2b_457.015 der Tragödie (katharsis ton pathematon); er sollte die Stimmung des p2b_457.016 Zuschauers durch ruhiges Urteil, durch Beifalls- oder Mißfallensbezeugungen, p2b_457.017 durch Ausdrücke der Sympathie, der Ermutigung, der Warnung &c. zeigen. p2b_457.018 Reinkens nennt ihn daher (Aristoteles über Kunst &c. S. 261 ff.) den Anwalt p2b_457.019 der Jnteressen des Volks, den Ausdruck der öffentlichen Meinung, oder p2b_457.020 das öffentliche Gewissen selbst, das Schallrohr der Stimme der Götter &c.
p2b_457.021 Wenn auch bei der Geburt der Tragödie die äolische Lyrik (durch Alkäos p2b_457.022 und Sappho) längst ihre Höhe erreicht hatte, so behielt die Lyrik im Chor doch p2b_457.023 eine gewisse Selbständigkeit. Der lyrische Charakter des Chors (dem man zum p2b_457.024 Beweis seiner Herkunft selbst im attischen Drama die dorische Mundart p2b_457.025 ließ, wodurch das Eigentumsrecht der Dorer auf die chorische Poesie manifestiert p2b_457.026 wird) liegt ebenso in der lyrischen Strophenform, als darin, daß der Chor p2b_457.027 gewissermaßen der Ausdruck all der moralischen Effekte war, welche die Handlung p2b_457.028 in den empfänglichen Gemütern erzeugte, wenn er sich auch zuweilen bis p2b_457.029 zu den höchsten Höhen geistiger Anschauung erhob (Pindar). (Vgl. weiter p2b_457.030 unten die versuchte Nachahmung des griech. Chors in Schillers Braut von p2b_457.031 Messina.)
p2b_457.032 Äußeres. Was das Äußere in der griechischen Tragödie betrifft, so p2b_457.033 trat zu der bereits von Thespis eingeführten Maske noch eine Fußbekleidung p2b_457.034 mit hohem Absatz, der Kothurn, hinzu. (Vgl. S. 437 d. Bds.) Man brauchte p2b_457.035 riesige Gestalten, wie die Götterbilder. Bei der Größe der Bühne hatte man p2b_457.036 auch eine starke leidenschaftsvolle Stimme nötig, weshalb zur Verstärkung der p2b_457.037 selben unter den Masken ein stimmverstärkender Schallapparat (per-sona) angebracht p2b_457.038 wurde. Das Theater selbst war eine dachlose Arena, deren Sitze treppenartig p2b_457.039 erhöht waren und im Halbkreise herumliefen, wie die erhaltenen alten p2b_457.040 Theater noch heute ersehen lassen.
p2b_457.041 Von den oben erwähnten drei Haupt-Tragikern des klassischen Altertums p2b_457.042 sind uns mehrere Tragödien erhalten worden: a. von Äschylus, der 490 v. p2b_457.043 Chr. bei Marathon mitkämpfte, sieben Tragödien, darunter Der gefesselte Prometheus, p2b_457.044 Agamemnon, Die Grabesspenderinnen und Die Eumeniden (letztere
p2b_457.001 Euripides ging über ihn hinaus. Er gab der leidenschaftsvollen Entwickelung p2b_457.002 des menschlichen Gemüts Raum und führte den Schluß zuweilen p2b_457.003 durch besondere Hülfe (deus ex machina) herbei.
p2b_457.004 Die antike Tragödie konnte das in unserer Tragödie zu Entwickelnde p2b_457.005 meist voraussetzen, sofern dasselbe durch Mythus und Geschichte feststehend war. p2b_457.006 Somit bot sie nur das, was uns heutzutage Peripetie und Katastrophe bieten; p2b_457.007 alles Übrige vermittelte der Prolog.
p2b_457.008 Der griechische Chor. Wesentlich war für die griechische Tragödie, wie p2b_457.009 überhaupt für das griechische Drama, der Chor, der mit der eigentlichen Handlung p2b_457.010 nichts zu schaffen hatte, vielmehr das öffentliche Gewissen zum Ausdruck p2b_457.011 bringen sollte. Er wurde repräsentiert durch eine Reihe von Personen, welche p2b_457.012 in dem zwischen dem Zuschauer und der Bühne befindlichen Raum ihren Platz p2b_457.013 hatten und zuweilen die Handlung durch Gesang, Musik, Tanz &c. unterbrachen. p2b_457.014 Seine Aufgabe war es, hinzuleiten auf die wahre und eigentliche Wirkung p2b_457.015 der Tragödie (κάθαρσις τῶν παθημάτων); er sollte die Stimmung des p2b_457.016 Zuschauers durch ruhiges Urteil, durch Beifalls- oder Mißfallensbezeugungen, p2b_457.017 durch Ausdrücke der Sympathie, der Ermutigung, der Warnung &c. zeigen. p2b_457.018 Reinkens nennt ihn daher (Aristoteles über Kunst &c. S. 261 ff.) den Anwalt p2b_457.019 der Jnteressen des Volks, den Ausdruck der öffentlichen Meinung, oder p2b_457.020 das öffentliche Gewissen selbst, das Schallrohr der Stimme der Götter &c.
p2b_457.021 Wenn auch bei der Geburt der Tragödie die äolische Lyrik (durch Alkäos p2b_457.022 und Sappho) längst ihre Höhe erreicht hatte, so behielt die Lyrik im Chor doch p2b_457.023 eine gewisse Selbständigkeit. Der lyrische Charakter des Chors (dem man zum p2b_457.024 Beweis seiner Herkunft selbst im attischen Drama die dorische Mundart p2b_457.025 ließ, wodurch das Eigentumsrecht der Dorer auf die chorische Poesie manifestiert p2b_457.026 wird) liegt ebenso in der lyrischen Strophenform, als darin, daß der Chor p2b_457.027 gewissermaßen der Ausdruck all der moralischen Effekte war, welche die Handlung p2b_457.028 in den empfänglichen Gemütern erzeugte, wenn er sich auch zuweilen bis p2b_457.029 zu den höchsten Höhen geistiger Anschauung erhob (Pindar). (Vgl. weiter p2b_457.030 unten die versuchte Nachahmung des griech. Chors in Schillers Braut von p2b_457.031 Messina.)
p2b_457.032 Äußeres. Was das Äußere in der griechischen Tragödie betrifft, so p2b_457.033 trat zu der bereits von Thespis eingeführten Maske noch eine Fußbekleidung p2b_457.034 mit hohem Absatz, der Kothurn, hinzu. (Vgl. S. 437 d. Bds.) Man brauchte p2b_457.035 riesige Gestalten, wie die Götterbilder. Bei der Größe der Bühne hatte man p2b_457.036 auch eine starke leidenschaftsvolle Stimme nötig, weshalb zur Verstärkung der p2b_457.037 selben unter den Masken ein stimmverstärkender Schallapparat (per-sona) angebracht p2b_457.038 wurde. Das Theater selbst war eine dachlose Arena, deren Sitze treppenartig p2b_457.039 erhöht waren und im Halbkreise herumliefen, wie die erhaltenen alten p2b_457.040 Theater noch heute ersehen lassen.
p2b_457.041 Von den oben erwähnten drei Haupt-Tragikern des klassischen Altertums p2b_457.042 sind uns mehrere Tragödien erhalten worden: a. von Äschylus, der 490 v. p2b_457.043 Chr. bei Marathon mitkämpfte, sieben Tragödien, darunter Der gefesselte Prometheus, p2b_457.044 Agamemnon, Die Grabesspenderinnen und Die Eumeniden (letztere
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/479>, abgerufen am 23.11.2024.
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