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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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Menschendasein giebt, auf dem die zahlreichen Schichten der Gesellschaft samt p2b_453.002
und sonders gleich hoch dastehen; und auch der Abgrund, der zu ihren Füßen p2b_453.003
gähnt, ist gleich jäh und gleich tief für sie alle. Da ist kein Stand mehr p2b_453.004
und kein Rang; da gilt nicht die Krone, da gilt nicht der Fürstenstab. Nur p2b_453.005
das Herz ist nötig in diesem Ringen um Glück oder Weh, um Leben oder Tod. p2b_453.006
Und was immer Mensch heißt, hat hier Zutritt und zahlt hier mit kostbarem p2b_453.007
Blute, das die Walstatt färbt. Mag also Schopenhauer noch so bedenklich p2b_453.008
den Kopf schütteln, wo es sich um die bürgerliche Tragödie handelt, mag der p2b_453.009
Stagirite die vornehme Abgeschlossenheit des Trauerspieles auf die Spitze treibend p2b_453.010
gar die Erklärung abgeben, lediglich die auf den Höhen der Menschheit Wandelnden, p2b_453.011
vom Schlage des Ödipus und Thyestes, und solcher, die ähnlichen p2b_453.012
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kai Thuestes kai oi ek toiouton genon epiphaneis), seien im Grunde p2b_453.014
zur Tragödie zulässig: die großen Dichter der Neuzeit haben in dieser Beziehung p2b_453.015
durch die That alle die Skrupel und Zweifel Andersdenkender besiegt und mit p2b_453.016
ihren Werken gezeigt, daß es Lieblinge des Unheils giebt in jedem Stande, p2b_453.017
und in jedem Stande einen Adel des Leidens, den das Schicksal erteilt p2b_453.018
mit wuchtigem Ritterschlag (Pessimistenbrevier 320). Lessings Miß Sara p2b_453.019
Sampson,
Schillers Kabale und Liebe, und Hebbels Maria Magdalena p2b_453.020
sind bürgerliche Trauerspiele - ja, s ind Shakespeares Romeo und p2b_453.021
Julia
(Klein, Gesch. d. Drama XII 506), Goethes Stella (W. Scherer, p2b_453.022
deutsche Rundschau 1876. IV 66 ff.) und Faust etwas anderes? - und p2b_453.023
dennoch werden sie vor hoch und niedrig ihre Wirkung thun, so gut wie die p2b_453.024
besten Tragödien, deren Kronengold und Herrscherpurpur das Auge blendet. p2b_453.025
Ja, gäbe es bloß den einzigen bürgerlichen Faust Goethes: wie viele p2b_453.026
Dutzende der Blaublutstragödien möchte man nicht missen für den Einzigen? p2b_453.027
Ruht doch (nach J. J. Baumann, 6 Vorträge 1874. S. 134) der fortwährende p2b_453.028
Zauber dieser Dichtung gerade darin, daß die Angelegtheit für das p2b_453.029
Faust'sche Element im Menschen allen Lesern stets einwohnt.

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Nachdem Siebenlist noch durch eine Reihe anderer Gründe die Gleichberechtigung p2b_453.031
der bürgerlichen Tragödie mit der "adeligen" dargethan, widerlegt p2b_453.032
er auch die Einwürfe in Bezug auf die Fallhöhe, indem er ausruft: Sollte p2b_453.033
Fausts großes Herz, sein ungestümer Lebensdrang, sein überreiches Gemüt, sein p2b_453.034
tiefes Wissen, all seine "Philosophie, Juristerei und Medicin und leider auch p2b_453.035
Theologie" nicht mindestens gleich hoch postieren, als das funkelndste Diadem p2b_453.036
aus Diamanten und Edelsteinen? Jch glaube also, für die tragische Muse sind p2b_453.037
bloß die Leidenschaften, die Willensbewegungen vorhanden; die tragische Muse p2b_453.038
sieht, wie Gott, nur die Herzen &c. Am meisten fällt in dieser Frage, wie p2b_453.039
sonst, Lessings Stimme in die Wagschale, der im 14. Stück der Hamb. p2b_453.040
Dramat. sagt: Wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit p2b_453.041
ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen ... Man thut dem menschlichen p2b_453.042
Herzen unrecht, man verkennt die Natur, wenn man glaubt, daß sie p2b_453.043
Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren &c.

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Von guten bürgerlichen Tragödien erwähnen wir außer den genannten

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Menschendasein giebt, auf dem die zahlreichen Schichten der Gesellschaft samt p2b_453.002
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erlauchten Geschlechtern angehören (οἱ ἐν μεγάλ δόξῃ ὄντες, οἷον Οἰδίπους p2b_453.013
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durch die That alle die Skrupel und Zweifel Andersdenkender besiegt und mit p2b_453.016
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/475>, abgerufen am 23.11.2024.