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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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bewundere, (sagt Manso, dem wir hier folgen), eine deutsche Jphigenie, ich p2b_438.002
setze sie ohne Bedenken weit über die griechische, ich glaube, so würde der philosophische p2b_438.003
Euripides geschrieben haben, wenn er in unseren Tagen gelebt hätte, p2b_438.004
aber diese sanft gehaltenen Charaktere, diese feineren Schattierungen der Leidenschaft, p2b_438.005
dieser hohe Adel in den Gesinnungen, diese gedankenschweren Sentenzen, p2b_438.006
diese so abgemessenen Verse sind nicht für die trägen Herzen und blöden Augen p2b_438.007
und dicken Ohren des Volks."

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Jch für meinen Teil zweifle nicht an der, wenn auch zukünftigen volkstümlichen p2b_438.009
Bedeutung und Bestimmung von Kunstwerken, die das Volk auf der p2b_438.010
augenblicklichen Bildungsstufe schwer versteht.

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6. Endlich sind unsere Helden menschlicher, als die der Griechen, was p2b_438.012
mit unserer nationalen und religiös sittlichen Bildung zusammenhängt. Menschlichkeit, p2b_438.013
Toleranz, Versöhnlichkeit &c. sind Charaktereigentümlichkeiten unserer, die p2b_438.014
stilleren Tugenden des Herzens pflegenden Nation geworden; den Griechen p2b_438.015
zeichnete eine exponierte Vaterlandsliebe aus, die ihn zur Tapferkeit, zur Härte, p2b_438.016
ja, zur Grausamkeit führte. Wenn nun die Tragödie die poetische Zeichnung p2b_438.017
des wirklichen Lebens einer bestimmten Zeit ist, so bedingt das die Verschiedenheit p2b_438.018
unserer und der griechischen Charaktere. Eine dem Feinde die Augen ausbohrende p2b_438.019
Hekuba, ein Orest und eine Elektra, die kalten Herzens über den Tod p2b_438.020
der Mutter zu Rat gehen, endlich eine Frau als Opferschlachterin &c. würden p2b_438.021
bei unserer Anschauung geradezu widerlich wirken und dadurch unmöglich sein.

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Freilich hatten es die griechischen Dichter insofern leichter, als sie durch den p2b_438.023
bequemen Fatalismus den größeren Teil der Schuld ihrem tragischen Helden p2b_438.024
abnahmen und den Gestirnen zuschoben. Jhr unglücklicher Held konnte auf p2b_438.025
Teilnahme rechnen trotz seiner unnatürlichen, menschenunwürdigen Handlungsweise. p2b_438.026
- (Orestes, der die Mutter töten muß, erregte Mitgefühl, denn der p2b_438.027
Gott hat ihm ja seine That befohlen und die Unterlassung mit furchtbarer Strafe p2b_438.028
bedroht u. s. w.)

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7. Während wir mit Aristoteles den Vorzug unter den Trauerspielen des p2b_438.030
Sophokles dem König Ödipus geben, haben die Griechen den Preis der p2b_438.031
in Anlage und Ausführung weit geringeren Antigone zuerkannt, so daß dieselbe p2b_438.032
32mal aufgeführt wurde und dem Dichter als Lohn für die Festaufführung, p2b_438.033
welche eigentlich gottesdienstlich war, die Befehlshaberstelle über das p2b_438.034
nach Samos befehligte Heer eintrug.

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Den Wert einer Tragödie bestimmte bei den Griechen (wie das vorstehende p2b_438.036
Beispiel zeigt) vorzugsweise die Aufnahme und das Jnteresse des p2b_438.037
Publikums.

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Für unsere Beurteilung ist diese Aufnahme zwar auch nicht unwesentlich, p2b_438.039
doch ist sie nicht in der obigen Weise maßgebend. Unsere Anforderungen sind p2b_438.040
andere geworden nicht nur hinsichtlich der Technik, sondern besonders was unsere p2b_438.041
heutigen Begriffe von Sitte, Tugend und die durch das Christentum ausgebildete p2b_438.042
und vervollkommnete Sittlichkeit betrifft. Wir würden z. B. eine Tragödie p2b_438.043
mit unsittlichen Tendenzen zu verwerfen haben und wenn sie den begeistertsten p2b_438.044
Beifall des Theaterpublikums finden würde. Die griechische Tragödie

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bewundere, (sagt Manso, dem wir hier folgen), eine deutsche Jphigenie, ich p2b_438.002
setze sie ohne Bedenken weit über die griechische, ich glaube, so würde der philosophische p2b_438.003
Euripides geschrieben haben, wenn er in unseren Tagen gelebt hätte, p2b_438.004
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dieser hohe Adel in den Gesinnungen, diese gedankenschweren Sentenzen, p2b_438.006
diese so abgemessenen Verse sind nicht für die trägen Herzen und blöden Augen p2b_438.007
und dicken Ohren des Volks.“

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Jch für meinen Teil zweifle nicht an der, wenn auch zukünftigen volkstümlichen p2b_438.009
Bedeutung und Bestimmung von Kunstwerken, die das Volk auf der p2b_438.010
augenblicklichen Bildungsstufe schwer versteht.

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6. Endlich sind unsere Helden menschlicher, als die der Griechen, was p2b_438.012
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Toleranz, Versöhnlichkeit &c. sind Charaktereigentümlichkeiten unserer, die p2b_438.014
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Freilich hatten es die griechischen Dichter insofern leichter, als sie durch den p2b_438.023
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Sophokles dem König Ödipus geben, haben die Griechen den Preis der p2b_438.031
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/460>, abgerufen am 23.11.2024.