p2b_436.001 freier, verantwortungsreicher, als der einer psychologischen Gestaltung wenig p2b_436.002 fähige typische Held der Griechen, über dessen Haupt sein Schicksal schwebt.
p2b_436.003 Wir haben für Fatalismus nur Leichtsinn, Unbesonnenheit.
p2b_436.004 Die Verschiedenheit unserer tragischen Helden wird auch durch unsere christliche p2b_436.005 Anschauung bedingt. Schopenhauer sagt in dieser Beziehung: Wie der p2b_436.006 stoische Gleichmut von der christlichen Resignation von Grund aus sich dadurch p2b_436.007 unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich p2b_436.008 notwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben p2b_436.009 des Wollens: ebenso zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen p2b_436.010 unter die unausweichlichen Schläge des Schicksals, das christliche Trauerspiel p2b_436.011 dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen p2b_436.012 der Welt, im Bewußtsein ihrer Wertlosigkeit und Nichtigkeit. Es würde sich p2b_436.013 hienach die Wirkung des antiken zu der des modernen Trauerspiels zwar nicht p2b_436.014 völlig, aber doch beiläufig wie der Wert einer negativen zu dem einer positiven p2b_436.015 Größe stellen. (Vgl. Siebenlist a. a. O. 42.)
p2b_436.016 4. Die Anschauungen der Griechen von dramatischer Vollkommenheit mußten p2b_436.017 auch aus inneren Gründen von den unsrigen abweichen. Bei ihnen findet p2b_436.018 man allenthalben Heroismus, heroische Sujets, der Schwerpunkt ihrer Katastrophen p2b_436.019 fällt in die Staatsidee, in den Staatszweck, während bei uns die p2b_436.020 Liebe und die Liebesintrigue als ein Hauptmotiv der Tragödie eine große Rolle p2b_436.021 spielt. Bei den Griechen hatte das Weib eine untergeordnete Stellung, während p2b_436.022 es uns ebenbürtige Genossin ist, so daß unsere Tragödien eine Reihe hocherhabener p2b_436.023 Frauencharaktere aufweisen. Wie somit die Griechen die modernideale p2b_436.024 Liebe (die Geschlechtsliebe) als treibendes Moment in der Tragödie nicht p2b_436.025 benützen konnten, so würden sie auch eine Tragödie nicht anerkannt haben, in p2b_436.026 welcher diese modern=ideale Liebe das belebende Agens gewesen wäre. p2b_436.027 Gebrochene Herzen aus verschmähter Liebe würden ihnen eben geradezu unverständlich p2b_436.028 gewesen sein. Allerdings hat Euripides in der Alkestis und im Hippolyt p2b_436.029 eine zärtliche Gattin und ein Weib im Kampf mit Unschuld und sinnlicher p2b_436.030 Leidenschaft vorgeführt; aber die Behandlung und dichterisch leidenschaftliche p2b_436.031 Entfaltung unterscheidet sich doch grundwesentlich von unserer modern=deutschen, p2b_436.032 aus dem Christentum erwachsenen Behandlungsweise.
p2b_436.033 Die Griechen besaßen große Helden mit einer gewaltigen Leidenschaft; ich p2b_436.034 erinnere an den zürnenden Achill, den rasenden Aias, die rachebrütende Elektra p2b_436.035 (paison ei stheneis diplen), die alles der Pietät opfernde Antigone, die p2b_436.036 rachesüchtige Medea &c.; aber sie besaßen aus dem obigen Grund keine Liebeshelden, p2b_436.037 keinen Romeo, keine Julia. Siebenlist (a. a. O. S. 424) sagt: Von p2b_436.038 Äschylos darf man behaupten, er habe nicht ohne volles Bewußtsein von den p2b_436.039 gewöhnlichen erotischen Stoffen keinen Gebrauch gemacht. Wenigstens rechnet p2b_436.040 er es sich bei Aristophanes sogar zum Verdienst an, niemals ein liebendes Weib p2b_436.041 auf die Bühne gebracht zu haben. Dafür schildert er eine Abart der Liebe, p2b_436.042 die, mag sie auch ihrer ideellen Seite nach nichts Bedenkliches haben, gleichwohl p2b_436.043 immerhin etwas Fremdartiges an sich trägt, das dem modernen Menschen selbst p2b_436.044 durch Paul Heyses Tragödie Hadrian, in welcher das Verhältnis dieses edlen
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p2b_436.003 Wir haben für Fatalismus nur Leichtsinn, Unbesonnenheit.
p2b_436.004 Die Verschiedenheit unserer tragischen Helden wird auch durch unsere christliche p2b_436.005 Anschauung bedingt. Schopenhauer sagt in dieser Beziehung: Wie der p2b_436.006 stoische Gleichmut von der christlichen Resignation von Grund aus sich dadurch p2b_436.007 unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich p2b_436.008 notwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben p2b_436.009 des Wollens: ebenso zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen p2b_436.010 unter die unausweichlichen Schläge des Schicksals, das christliche Trauerspiel p2b_436.011 dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen p2b_436.012 der Welt, im Bewußtsein ihrer Wertlosigkeit und Nichtigkeit. Es würde sich p2b_436.013 hienach die Wirkung des antiken zu der des modernen Trauerspiels zwar nicht p2b_436.014 völlig, aber doch beiläufig wie der Wert einer negativen zu dem einer positiven p2b_436.015 Größe stellen. (Vgl. Siebenlist a. a. O. 42.)
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/458>, abgerufen am 23.11.2024.
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