p2b_422.001 Menschen in einem Zustande des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser p2b_422.002 Mitleid zu erregen.
p2b_422.003 Man sollte zur Erläuterung oder Erschöpfung des Begriffs zusetzen: Durch p2b_422.004 jenes starke Beherrschtsein von heftigen Gefühlen, Affekten, Begehrungen, das p2b_422.005 die Stimme der Mäßigung und Klugheit nicht beachtet, welches man Leidenschaft p2b_422.006 nennt; ferner durch Rücksichtslosigkeit, Verbrechen, Unentschlossenheit &c. p2b_422.007 verstößt der Held der Tragödie gegen bestimmte unabänderliche Gesetze und p2b_422.008 zieht sich so sein Schicksal zu. Glück und Unglück wechseln. Endlich erscheint p2b_422.009 der Rächer (Peripetie oder Umschlag). Vergebens sucht der tragische Held nach p2b_422.010 einem Halt. Der Schluß ist Tod, Ruin, Untergang. So eröffnet die Tragödie p2b_422.011 einen erhabenen Einblick in das unendliche Walten der Vorsehung, in die Schicksale p2b_422.012 des Menschen.
p2b_422.013 Nach Hans Herrig (in Osk. Blumenthals Neuen Monatsheften IV 424) p2b_422.014 ist die moderne Tragödie die wahre Kunst der Erlösung, der Freiheit, die nicht p2b_422.015 wie die antike sich bei der schließlichen Ergebung in die Gesetze des Weltalls p2b_422.016 beruhigt und resigniert, sondern durch Entsagung über dieselben triumphiert. p2b_422.017 Das Wort des Heilands: Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie p2b_422.018 thun, ist auch das letzte Wort der Tragödie. Die Welt weiß nicht, was sie p2b_422.019 thut, aber der Held hat es erfahren, und hat nun nur noch die letzten Seufzer p2b_422.020 für sie übrig: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt", und "Es ist vollbracht!" p2b_422.021 Der Schleier der Maja ist zerronnen; der Vorhang schwebt langsam nieder. p2b_422.022 (Aug. Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie 1880 S. 43.)
p2b_422.023 2. A. W. Schlegel sagt (Sämtl. Werke V 41): "Wenn wir die Beziehungen p2b_422.024 unseres Daseins bis an die äußerste Grenze der Möglichkeiten überschauen, p2b_422.025 wenn wir dessen ganze Abhängigkeit von einer unübersehlichen Verkettung p2b_422.026 der Ursachen und Wirkungen erwägen; wie wir schwach und hülflos p2b_422.027 gegen den Andrang unermeßlicher Naturkräfte und streitender Begierden an die p2b_422.028 Küste einer unbekannten Welt ausgeworfen werden, gleichsam bei der Geburt p2b_422.029 schon schiffbrüchig; wie wir allen Jrrtümern, allen Täuschungen ausgesetzt sind, p2b_422.030 deren jede verderblich werden kann; wie wir in der Leidenschaft unsern eignen p2b_422.031 Feind im Busen tragen; wie jeder Augenblick im Namen der heiligsten Pflichten p2b_422.032 die Aufopferung der süßesten Neigungen von uns fordern, und durch einen p2b_422.033 plötzlichen Schlag uns alles Schwer-Erworbene rauben kann; wie mit jeder p2b_422.034 Erweiterung des Besitzes die Gefahr des Verlustes steigt, und wir den Tücken p2b_422.035 des feindseligen Zufalls nur um so mehr Blößen darbieten: dann muß jedes p2b_422.036 nicht dem Gefühl verschlossene Gemüt von einer unaussprechlichen Wehmut p2b_422.037 befallen werden, gegen die es keine andre Schutzwehr giebt, als das Bewußtsein p2b_422.038 eines über das Jrdische hinausgehenden Berufs. Dies ist die tragische p2b_422.039 Stimmung; und wenn die Betrachtung des Möglichen als lebendige Wirklichkeit p2b_422.040 aus dem Geiste heraustritt, wenn jede Stimmung die auffallendsten Beispiele p2b_422.041 von gewaltsamen Umwälzungen menschlicher Schicksale, vom Unterliegen p2b_422.042 des Willens dabei oder bewiesener Seelenstärke, in der Darstellung durchdringt p2b_422.043 und beseelt: dann entsteht tragische Poesie." (Vgl. I S. 100.)
p2b_422.001 Menschen in einem Zustande des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser p2b_422.002 Mitleid zu erregen.
p2b_422.003 Man sollte zur Erläuterung oder Erschöpfung des Begriffs zusetzen: Durch p2b_422.004 jenes starke Beherrschtsein von heftigen Gefühlen, Affekten, Begehrungen, das p2b_422.005 die Stimme der Mäßigung und Klugheit nicht beachtet, welches man Leidenschaft p2b_422.006 nennt; ferner durch Rücksichtslosigkeit, Verbrechen, Unentschlossenheit &c. p2b_422.007 verstößt der Held der Tragödie gegen bestimmte unabänderliche Gesetze und p2b_422.008 zieht sich so sein Schicksal zu. Glück und Unglück wechseln. Endlich erscheint p2b_422.009 der Rächer (Peripetie oder Umschlag). Vergebens sucht der tragische Held nach p2b_422.010 einem Halt. Der Schluß ist Tod, Ruin, Untergang. So eröffnet die Tragödie p2b_422.011 einen erhabenen Einblick in das unendliche Walten der Vorsehung, in die Schicksale p2b_422.012 des Menschen.
p2b_422.013 Nach Hans Herrig (in Osk. Blumenthals Neuen Monatsheften IV 424) p2b_422.014 ist die moderne Tragödie die wahre Kunst der Erlösung, der Freiheit, die nicht p2b_422.015 wie die antike sich bei der schließlichen Ergebung in die Gesetze des Weltalls p2b_422.016 beruhigt und resigniert, sondern durch Entsagung über dieselben triumphiert. p2b_422.017 Das Wort des Heilands: Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie p2b_422.018 thun, ist auch das letzte Wort der Tragödie. Die Welt weiß nicht, was sie p2b_422.019 thut, aber der Held hat es erfahren, und hat nun nur noch die letzten Seufzer p2b_422.020 für sie übrig: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, und „Es ist vollbracht!“ p2b_422.021 Der Schleier der Maja ist zerronnen; der Vorhang schwebt langsam nieder. p2b_422.022 (Aug. Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie 1880 S. 43.)
p2b_422.023 2. A. W. Schlegel sagt (Sämtl. Werke V 41): „Wenn wir die Beziehungen p2b_422.024 unseres Daseins bis an die äußerste Grenze der Möglichkeiten überschauen, p2b_422.025 wenn wir dessen ganze Abhängigkeit von einer unübersehlichen Verkettung p2b_422.026 der Ursachen und Wirkungen erwägen; wie wir schwach und hülflos p2b_422.027 gegen den Andrang unermeßlicher Naturkräfte und streitender Begierden an die p2b_422.028 Küste einer unbekannten Welt ausgeworfen werden, gleichsam bei der Geburt p2b_422.029 schon schiffbrüchig; wie wir allen Jrrtümern, allen Täuschungen ausgesetzt sind, p2b_422.030 deren jede verderblich werden kann; wie wir in der Leidenschaft unsern eignen p2b_422.031 Feind im Busen tragen; wie jeder Augenblick im Namen der heiligsten Pflichten p2b_422.032 die Aufopferung der süßesten Neigungen von uns fordern, und durch einen p2b_422.033 plötzlichen Schlag uns alles Schwer-Erworbene rauben kann; wie mit jeder p2b_422.034 Erweiterung des Besitzes die Gefahr des Verlustes steigt, und wir den Tücken p2b_422.035 des feindseligen Zufalls nur um so mehr Blößen darbieten: dann muß jedes p2b_422.036 nicht dem Gefühl verschlossene Gemüt von einer unaussprechlichen Wehmut p2b_422.037 befallen werden, gegen die es keine andre Schutzwehr giebt, als das Bewußtsein p2b_422.038 eines über das Jrdische hinausgehenden Berufs. Dies ist die tragische p2b_422.039 Stimmung; und wenn die Betrachtung des Möglichen als lebendige Wirklichkeit p2b_422.040 aus dem Geiste heraustritt, wenn jede Stimmung die auffallendsten Beispiele p2b_422.041 von gewaltsamen Umwälzungen menschlicher Schicksale, vom Unterliegen p2b_422.042 des Willens dabei oder bewiesener Seelenstärke, in der Darstellung durchdringt p2b_422.043 und beseelt: dann entsteht tragische Poesie.“ (Vgl. I S. 100.)
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(Aug. Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie 1880 S. 43.)
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/444>, abgerufen am 23.11.2024.
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