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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern. p2b_201.002
Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch p2b_201.003
das Ganze übrig bleibt, in dessen Vereinigung dasselbe, wenn auch in anderer p2b_201.004
Form, fortbesteht. Jn der That ein didaktisches Moment von hoher p2b_201.005
idealer Bedeutung, welches allein das Gedicht in die Sphäre der p2b_201.006
idealen Gedankenlyrik hebt.
"Die sterbende Blume" ist daher ebenso hinsichtlich p2b_201.007
des Lehrhaften, wie des Lyrischen eines der bedeutendsten poetischen Produkte; p2b_201.008
der Gedanke dieses vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin, p2b_201.009
die Sonne, die ihr in's Auge geschaut, bis der Strahl ihr das Leben gestohlen; p2b_201.010
das Gefühl dieser innigen Ergebung, die auch ein Lächeln noch im Tode für p2b_201.011
den geliebten Gegenstand hat, der beglückt und entzückt hat, war eines deutsch p2b_201.012
fühlenden Dichters würdig.

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Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten p2b_201.014
Gedichten auch Schiller giebt, ist echte Poesie, und bildet nur durch ihre Absicht p2b_201.015
einen bestimmten schönen Gegensatz zur subjektiven oder Gefühlslyrik. Nur p2b_201.016
Dichter, die zugleich Philosophen sind, können solche gehaltvolle Gedichte liefern, p2b_201.017
die man für die Folge in die Rubrik der idealen Gedankenlyrik zu verzeichnen p2b_201.018
haben wird. Schiller und Rückert zeigen in den erwähnten Proben der idealen p2b_201.019
Gedankenlyrik, daß die oberste Gattung des Lehrgedichts nur eines dichterischen p2b_201.020
Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der p2b_201.021
Philosophie in gleichem Maße Genüge zu leisten.

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Beispiel der idealen Gedankenlyrik.

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Die sterbende Blume, von Rückert.

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Hoffe! du erlebst es noch, p2b_201.025
Daß der Frühling wiederkehrt. p2b_201.026
Hoffen alle Bäume doch, p2b_201.027
Die des Herbstes Wind verheert, p2b_201.028
Hoffen mit der stillen Kraft p2b_201.029
Jhrer Knospen winterlang, p2b_201.030
Bis sich wieder regt der Saft, p2b_201.031
Und ein neues Grün entsprang. -
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"Ach, ich bin kein starker Baum, p2b_201.033
Der ein Sommertausend lebt, p2b_201.034
Nach verträumtem Wintertraum p2b_201.035
Neue Lenzgedichte webt. p2b_201.036
Ach, ich bin die Blume nur, p2b_201.037
Die des Maies Kuß geweckt, p2b_201.038
Und von der nicht bleibt die Spur p2b_201.039
Wie das weiße Grab sie deckt." -
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Wenn du denn die Blume bist, p2b_201.041
O bescheidenes Gemüt, p2b_201.042
Tröste dich, beschieden ist p2b_201.043
Samen allem, was da blüht. p2b_201.044
Laß den Sturm des Todes doch p2b_201.045
Deinen Lebensstaub verstreu'n,

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seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern. p2b_201.002
Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch p2b_201.003
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Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten p2b_201.014
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Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der p2b_201.021
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Beispiel der idealen Gedankenlyrik.

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Die sterbende Blume, von Rückert.

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[201/0223] p2b_201.001 seiner sterbenden Blume mit ergreifender Wahrheit die Vergänglichkeit schildern. p2b_201.002 Er läßt den belehrenden Trost, daß, wenn auch das Einzelne vergeht, doch p2b_201.003 das Ganze übrig bleibt, in dessen Vereinigung dasselbe, wenn auch in anderer p2b_201.004 Form, fortbesteht. Jn der That ein didaktisches Moment von hoher p2b_201.005 idealer Bedeutung, welches allein das Gedicht in die Sphäre der p2b_201.006 idealen Gedankenlyrik hebt. „Die sterbende Blume“ ist daher ebenso hinsichtlich p2b_201.007 des Lehrhaften, wie des Lyrischen eines der bedeutendsten poetischen Produkte; p2b_201.008 der Gedanke dieses vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin, p2b_201.009 die Sonne, die ihr in's Auge geschaut, bis der Strahl ihr das Leben gestohlen; p2b_201.010 das Gefühl dieser innigen Ergebung, die auch ein Lächeln noch im Tode für p2b_201.011 den geliebten Gegenstand hat, der beglückt und entzückt hat, war eines deutsch p2b_201.012 fühlenden Dichters würdig. p2b_201.013 Solche didaktische Poesie, wie sie hier Rückert und in den oben erwähnten p2b_201.014 Gedichten auch Schiller giebt, ist echte Poesie, und bildet nur durch ihre Absicht p2b_201.015 einen bestimmten schönen Gegensatz zur subjektiven oder Gefühlslyrik. Nur p2b_201.016 Dichter, die zugleich Philosophen sind, können solche gehaltvolle Gedichte liefern, p2b_201.017 die man für die Folge in die Rubrik der idealen Gedankenlyrik zu verzeichnen p2b_201.018 haben wird. Schiller und Rückert zeigen in den erwähnten Proben der idealen p2b_201.019 Gedankenlyrik, daß die oberste Gattung des Lehrgedichts nur eines dichterischen p2b_201.020 Genius bedarf, der im Stande ist, den Anforderungen der Poesie wie der p2b_201.021 Philosophie in gleichem Maße Genüge zu leisten. p2b_201.022 Beispiel der idealen Gedankenlyrik. p2b_201.023 Die sterbende Blume, von Rückert. p2b_201.024 Hoffe! du erlebst es noch, p2b_201.025 Daß der Frühling wiederkehrt. p2b_201.026 Hoffen alle Bäume doch, p2b_201.027 Die des Herbstes Wind verheert, p2b_201.028 Hoffen mit der stillen Kraft p2b_201.029 Jhrer Knospen winterlang, p2b_201.030 Bis sich wieder regt der Saft, p2b_201.031 Und ein neues Grün entsprang. ─ p2b_201.032 „Ach, ich bin kein starker Baum, p2b_201.033 Der ein Sommertausend lebt, p2b_201.034 Nach verträumtem Wintertraum p2b_201.035 Neue Lenzgedichte webt. p2b_201.036 Ach, ich bin die Blume nur, p2b_201.037 Die des Maies Kuß geweckt, p2b_201.038 Und von der nicht bleibt die Spur p2b_201.039 Wie das weiße Grab sie deckt.“ ─ p2b_201.040 Wenn du denn die Blume bist, p2b_201.041 O bescheidenes Gemüt, p2b_201.042 Tröste dich, beschieden ist p2b_201.043 Samen allem, was da blüht. p2b_201.044 Laß den Sturm des Todes doch p2b_201.045 Deinen Lebensstaub verstreu'n,

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/223>, abgerufen am 25.11.2024.