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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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6. Großen Spielraum wird dem in die Geheimnisse der Strophik p1b_763.002
eingedrungenen Dichter die Behandlung der freien Strophenformen p1b_763.003
gewähren. Hierbei dürfte Schillers Lied von der Glocke Vorbild p1b_763.004
sein. (§ 157.)

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1. Überblicken wir die sämtlichen Strophen, so finden wir, daß dieselben p1b_763.006
meist aus 2= bis 6taktigen, in einzelnen Fällen aber auch aus 7= und p1b_763.007
8taktigen Versen bestehen. Vorherrschend in der Lyrik sind diejenigen Strophen, p1b_763.008
welche aus 4taktigen Versen gebildet sind.

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2. Weiter ersieht man, daß die Länge der Verse insofern von der p1b_763.010
Strophenlänge abhängig ist, als lange Strophen - sofern sie nicht schematische p1b_763.011
Kunstdichtungen sein sollen - schon der Übersichtlichkeit und der Auffaßbarkeit p1b_763.012
halber unbedingt kurze Zeilen haben müssen.

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3. Die Strophenlänge ist meistens nur vom Jnhalt des Gedichts p1b_763.014
abhängig wie von der Gruppierung des Stoffes. Romanzen, Balladen, singbare p1b_763.015
Gedichte haben (Geibels 12zeilige Spielmannsstrophe ausgenommen) in der p1b_763.016
Regel keine zu langen Strophen, welch letztere mehr bei schilderndem, erzählendem, p1b_763.017
elegischem Jnhalt am Platze sein mögen. Deshalb hat z. B. Rückert p1b_763.018
Gedichte wie Schwere Wahl (Ges. Ausg. I. 534), Der Guckkasten (II. 104), p1b_763.019
Die Ephemeren (VII. 314), Das Reich der Amoren (I. 537) in langen p1b_763.020
Strophen
geschaffen. Ebenso Tiedge Elegie, Denis Gruß des Frühlings, p1b_763.021
Tieck Sehnsucht, Schiller Lied von der Glocke und Kampf mit dem Drachen, p1b_763.022
Hermann Lingg Spartakus, Geibel Der Tod des Tiberius, Strachwitz Der gefangene p1b_763.023
Admiral, Lenau Der Schiffsjunge, George Morin Sedan u. s. w.

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4. Wie aus den Beispielen des § 117 ersichtlich ist, findet man als p1b_763.025
Maximum der Strophenausdehnung 20= bis 35zeilige Strophen. Die letzteren p1b_763.026
dürften wohl von keinem Ohre als einheitliche Ganze aufgefaßt werden können. p1b_763.027
Jn der Regel ist die 12zeilige Strophe die Grenze lyrischer Dichtungen. Große p1b_763.028
Dichter haben aber auch einzelne wertvolle, schöne Bildungen in 13=, 14=, p1b_763.029
16= bis 20zeiligen Strophen geliefert. Bei charakteristischer Lautverschiedenheit p1b_763.030
der Reime, Einführung markierender Verse, Abwechslung im Rhythmus &c. p1b_763.031
machen selbst noch lange kurzzeilige Strophen einen freundlichen Eindruck. Beim p1b_763.032
Deklamieren wird das Gefühl erzeugt werden, als ob 2 oder 4 Zeilen je eine p1b_763.033
Zeile bilden.

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5. Ein Überblick über die von uns aufgerollten möglichen Strophenformen p1b_763.035
begründet die Überzeugung, daß der einzelne Dichter seine Kraft p1b_763.036
keinesfalls in allen möglichen Formen zu bewähren vermag, daß er aber auch p1b_763.037
(etwa die in § 219 erwähnten Formen ausgenommen) durchaus nicht nötig p1b_763.038
hat, neuen, unentdeckten Formen nachzusinnen. Sein Genie wird sich in der p1b_763.039
richtigen Auswahl der seinem Gefühl und Stoff am meisten entsprechenden p1b_763.040
Form nicht vergreifen; es wird aber auch eine untergeordnete, unbekannte p1b_763.041
Form zu nie geahntem Glanz erheben können. Nur durch Musterleistungen in p1b_763.042
einer bestimmten Form hat sich von jeher der dichtende Genius bewährt, nur p1b_763.043
durch eine großartige Leistung wurde die Form berühmt. Tiefer Jnhalt p1b_763.044
mit der schönen Form vermählt, schafft reine geistige Kunst!

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6. Großen Spielraum wird dem in die Geheimnisse der Strophik p1b_763.002
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1. Überblicken wir die sämtlichen Strophen, so finden wir, daß dieselben p1b_763.006
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 763. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/797>, abgerufen am 22.11.2024.