Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

p1b_616.001
Tieck - haben durch vorspringende Zeilen die Dreiteiligkeit noch schärfer p1b_616.002
markiert. Nur tritt dadurch für den Unkundigen der Nachteil ein, daß er p1b_616.003
Stollen und Abgesang für 3 Strophen hält.

p1b_616.004
Ein Beispiel der Schreibung bei den Minnesingern:

p1b_616.005

Gewan ich je deheinen muot, p1b_616.006
der hohe stuont, den han ich noch; p1b_616.007
Min leben dunket mich vil guot p1b_616.008
und ist es niht, so waen' ich's doch. p1b_616.009
Ez tuot mir wol, waz wil ich's mere? p1b_616.010
unt vürhte unrehten spot niht (al) ze sere, p1b_616.011
unt kan wol liden boesen haz: p1b_616.012
solt' ich's also die lenge pflegen, ich gert' es niemer baz.

p1b_616.013

(Reinmar der Alte. Vgl. v. d. Hagens Minnesinger I. 175.)

p1b_616.014
Dasselbe Beispiel in der Rückertschen Bearbeitung und p1b_616.015
Schreibung:

p1b_616.016
Gewann ich jemals einen Mut, p1b_616.017
Der hoch mir stand, den hab ich noch. p1b_616.018
Es dünket mich mein Leben gut, p1b_616.019
Und ist es nicht, so wähn' ich's doch. p1b_616.020
Es thut mir wohl, was will ich mehr? p1b_616.021
Jch fürcht unrechten Spott nicht sehr, p1b_616.022
Und kann wohl leiden bösen Haß! p1b_616.023
Wie lang' ich's treiben soll, ich wünsch' es nimmer baß.
p1b_616.024

(Rückerts "Herr Reinmar der Alte". Ges. Ausg. V. 126.)

p1b_616.025
(Vgl. hierzu auch Tiecks sämtliche Werke Bd. 20: "Minnelieder aus p1b_616.026
dem schwäbischen Zeitalter.")

p1b_616.027
§ 195. Die Dreiteiligkeit der Strophen bei den neueren p1b_616.028
Dichtern.

p1b_616.029
Bei den neueren Dichtern finden wir die Dreiteiligkeit der Strophen p1b_616.030
nur sehr vereinzelt. Zuweilen tritt sie äußerlich nicht zu Tage, oder p1b_616.031
der Dichter hat sie unabsichtlich nur in einzelnen Strophen einzelner p1b_616.032
Dichtungen angewandt.

p1b_616.033
Schiller schreibt in seinem Lied an die Freude die beiden Stollen p1b_616.034
des Aufgesangs als besondere Strophe und fügt den Abgesang als Chorstrophe p1b_616.035
an:

p1b_616.036
Freude, schöner Götterfunken! p1b_616.037
Tochter aus Elysium, p1b_616.038
Wir betreten feuertrunken, p1b_616.039
Himmlische, dein Heiligtum. p1b_616.040
Deine Zauber binden wieder, p1b_616.041
Was die Mode streng geteilt; p1b_616.042
Alle Menschen werden Brüder, p1b_616.043
Wo dein sanfter Flügel weilt.

p1b_616.001
Tieck ─ haben durch vorspringende Zeilen die Dreiteiligkeit noch schärfer p1b_616.002
markiert. Nur tritt dadurch für den Unkundigen der Nachteil ein, daß er p1b_616.003
Stollen und Abgesang für 3 Strophen hält.

p1b_616.004
Ein Beispiel der Schreibung bei den Minnesingern:

p1b_616.005

Gewan ich je deheinen muot, p1b_616.006
der hohe stuont, den han ich noch; p1b_616.007
Min leben dunket mich vil guot p1b_616.008
und ist es niht, so waen' ich's doch. p1b_616.009
Ez tuot mir wol, waz wil ich's mere? p1b_616.010
unt vürhte unrehten spot niht (al) ze sere, p1b_616.011
unt kan wol liden boesen haz: p1b_616.012
solt' ich's also die lenge pflegen, ich gert' es niemer baz.

p1b_616.013

(Reinmar der Alte. Vgl. v. d. Hagens Minnesinger I. 175.)

p1b_616.014
Dasselbe Beispiel in der Rückertschen Bearbeitung und p1b_616.015
Schreibung:

p1b_616.016
Gewann ich jemals einen Mut, p1b_616.017
Der hoch mir stand, den hab ich noch. p1b_616.018
Es dünket mich mein Leben gut, p1b_616.019
Und ist es nicht, so wähn' ich's doch. p1b_616.020
Es thut mir wohl, was will ich mehr? p1b_616.021
Jch fürcht unrechten Spott nicht sehr, p1b_616.022
Und kann wohl leiden bösen Haß! p1b_616.023
Wie lang' ich's treiben soll, ich wünsch' es nimmer baß.
p1b_616.024

(Rückerts „Herr Reinmar der Alte“. Ges. Ausg. V. 126.)

p1b_616.025
(Vgl. hierzu auch Tiecks sämtliche Werke Bd. 20: „Minnelieder aus p1b_616.026
dem schwäbischen Zeitalter.“)

p1b_616.027
§ 195. Die Dreiteiligkeit der Strophen bei den neueren p1b_616.028
Dichtern.

p1b_616.029
Bei den neueren Dichtern finden wir die Dreiteiligkeit der Strophen p1b_616.030
nur sehr vereinzelt. Zuweilen tritt sie äußerlich nicht zu Tage, oder p1b_616.031
der Dichter hat sie unabsichtlich nur in einzelnen Strophen einzelner p1b_616.032
Dichtungen angewandt.

p1b_616.033
Schiller schreibt in seinem Lied an die Freude die beiden Stollen p1b_616.034
des Aufgesangs als besondere Strophe und fügt den Abgesang als Chorstrophe p1b_616.035
an:

p1b_616.036
Freude, schöner Götterfunken! p1b_616.037
Tochter aus Elysium, p1b_616.038
Wir betreten feuertrunken, p1b_616.039
Himmlische, dein Heiligtum. p1b_616.040
Deine Zauber binden wieder, p1b_616.041
Was die Mode streng geteilt; p1b_616.042
Alle Menschen werden Brüder, p1b_616.043
Wo dein sanfter Flügel weilt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0650" n="616"/><lb n="p1b_616.001"/><hi rendition="#g">Tieck</hi> &#x2500; haben durch vorspringende Zeilen die Dreiteiligkeit noch schärfer <lb n="p1b_616.002"/>
markiert. Nur tritt dadurch für den Unkundigen der Nachteil ein, daß er <lb n="p1b_616.003"/>
Stollen und Abgesang für 3 Strophen hält.</p>
              <p>
                <lb n="p1b_616.004"/> <hi rendition="#g">Ein Beispiel der Schreibung bei den Minnesingern:</hi> </p>
              <lb n="p1b_616.005"/>
              <p> <hi rendition="#aq">
                  <lg>
                    <l>Gewan ich je deheinen muot,</l>
                    <lb n="p1b_616.006"/>
                    <l>der hohe stuont, den han ich noch;</l>
                    <lb n="p1b_616.007"/>
                    <l>Min leben dunket mich vil guot</l>
                    <lb n="p1b_616.008"/>
                    <l>und ist es niht, so waen' ich's doch.</l>
                    <lb n="p1b_616.009"/>
                    <l>Ez tuot mir wol, waz wil ich's mere?</l>
                    <lb n="p1b_616.010"/>
                    <l>unt vürhte unrehten spot niht (al) ze sere,</l>
                    <lb n="p1b_616.011"/>
                    <l>unt kan wol liden boesen haz:</l>
                    <lb n="p1b_616.012"/>
                    <l>solt' ich's also die lenge pflegen, ich gert' es niemer baz.</l>
                  </lg>
                </hi> </p>
              <lb n="p1b_616.013"/>
              <p> <hi rendition="#right">(Reinmar der Alte. Vgl. v. d. Hagens Minnesinger <hi rendition="#aq">I</hi>. 175.)</hi> </p>
              <p>
                <lb n="p1b_616.014"/> <hi rendition="#g">Dasselbe Beispiel in der Rückertschen Bearbeitung und <lb n="p1b_616.015"/>
Schreibung:</hi> </p>
              <lb n="p1b_616.016"/>
              <lg>
                <l>Gewann ich jemals einen Mut,</l>
                <lb n="p1b_616.017"/>
                <l> Der hoch mir stand, den hab ich noch.</l>
                <lb n="p1b_616.018"/>
                <l>Es dünket mich mein Leben gut,</l>
                <lb n="p1b_616.019"/>
                <l> Und ist es nicht, so wähn' ich's doch.</l>
                <lb n="p1b_616.020"/>
                <l>Es thut mir wohl, was will ich mehr?</l>
                <lb n="p1b_616.021"/>
                <l> Jch fürcht unrechten Spott nicht sehr,</l>
                <lb n="p1b_616.022"/>
                <l> Und kann wohl leiden bösen Haß!</l>
                <lb n="p1b_616.023"/>
                <l> Wie lang' ich's treiben soll, ich wünsch' es nimmer baß.</l>
              </lg>
              <lb n="p1b_616.024"/>
              <p> <hi rendition="#right">(Rückerts &#x201E;Herr Reinmar der Alte&#x201C;. Ges. Ausg. <hi rendition="#aq">V</hi>. 126.)</hi> </p>
              <p><lb n="p1b_616.025"/>
(Vgl. hierzu auch Tiecks sämtliche Werke Bd. 20: &#x201E;Minnelieder aus <lb n="p1b_616.026"/>
dem schwäbischen Zeitalter.&#x201C;)</p>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="p1b_616.027"/>
              <head> <hi rendition="#c">§ 195. Die Dreiteiligkeit der Strophen bei den neueren <lb n="p1b_616.028"/>
Dichtern.</hi> </head>
              <p><lb n="p1b_616.029"/>
Bei den neueren Dichtern finden wir die Dreiteiligkeit der Strophen <lb n="p1b_616.030"/>
nur sehr vereinzelt. Zuweilen tritt sie äußerlich nicht zu Tage, oder <lb n="p1b_616.031"/>
der Dichter hat sie unabsichtlich nur in einzelnen Strophen einzelner <lb n="p1b_616.032"/>
Dichtungen angewandt.</p>
              <p><lb n="p1b_616.033"/><hi rendition="#g">Schiller</hi> schreibt in seinem Lied an die Freude die beiden Stollen <lb n="p1b_616.034"/>
des Aufgesangs als besondere Strophe und fügt den Abgesang als Chorstrophe <lb n="p1b_616.035"/>
an:</p>
              <lb n="p1b_616.036"/>
              <lg>
                <l>Freude, schöner Götterfunken!</l>
                <lb n="p1b_616.037"/>
                <l>Tochter aus Elysium,</l>
                <lb n="p1b_616.038"/>
                <l>Wir betreten feuertrunken,</l>
                <lb n="p1b_616.039"/>
                <l>Himmlische, dein Heiligtum.</l>
                <lb n="p1b_616.040"/>
                <l>Deine Zauber binden wieder,</l>
                <lb n="p1b_616.041"/>
                <l>Was die Mode streng geteilt;</l>
                <lb n="p1b_616.042"/>
                <l>Alle Menschen werden Brüder,</l>
                <lb n="p1b_616.043"/>
                <l><hi rendition="#g">Wo</hi> dein sanfter Flügel weilt.</l>
              </lg>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[616/0650] p1b_616.001 Tieck ─ haben durch vorspringende Zeilen die Dreiteiligkeit noch schärfer p1b_616.002 markiert. Nur tritt dadurch für den Unkundigen der Nachteil ein, daß er p1b_616.003 Stollen und Abgesang für 3 Strophen hält. p1b_616.004 Ein Beispiel der Schreibung bei den Minnesingern: p1b_616.005 Gewan ich je deheinen muot, p1b_616.006 der hohe stuont, den han ich noch; p1b_616.007 Min leben dunket mich vil guot p1b_616.008 und ist es niht, so waen' ich's doch. p1b_616.009 Ez tuot mir wol, waz wil ich's mere? p1b_616.010 unt vürhte unrehten spot niht (al) ze sere, p1b_616.011 unt kan wol liden boesen haz: p1b_616.012 solt' ich's also die lenge pflegen, ich gert' es niemer baz. p1b_616.013 (Reinmar der Alte. Vgl. v. d. Hagens Minnesinger I. 175.) p1b_616.014 Dasselbe Beispiel in der Rückertschen Bearbeitung und p1b_616.015 Schreibung: p1b_616.016 Gewann ich jemals einen Mut, p1b_616.017 Der hoch mir stand, den hab ich noch. p1b_616.018 Es dünket mich mein Leben gut, p1b_616.019 Und ist es nicht, so wähn' ich's doch. p1b_616.020 Es thut mir wohl, was will ich mehr? p1b_616.021 Jch fürcht unrechten Spott nicht sehr, p1b_616.022 Und kann wohl leiden bösen Haß! p1b_616.023 Wie lang' ich's treiben soll, ich wünsch' es nimmer baß. p1b_616.024 (Rückerts „Herr Reinmar der Alte“. Ges. Ausg. V. 126.) p1b_616.025 (Vgl. hierzu auch Tiecks sämtliche Werke Bd. 20: „Minnelieder aus p1b_616.026 dem schwäbischen Zeitalter.“) p1b_616.027 § 195. Die Dreiteiligkeit der Strophen bei den neueren p1b_616.028 Dichtern. p1b_616.029 Bei den neueren Dichtern finden wir die Dreiteiligkeit der Strophen p1b_616.030 nur sehr vereinzelt. Zuweilen tritt sie äußerlich nicht zu Tage, oder p1b_616.031 der Dichter hat sie unabsichtlich nur in einzelnen Strophen einzelner p1b_616.032 Dichtungen angewandt. p1b_616.033 Schiller schreibt in seinem Lied an die Freude die beiden Stollen p1b_616.034 des Aufgesangs als besondere Strophe und fügt den Abgesang als Chorstrophe p1b_616.035 an: p1b_616.036 Freude, schöner Götterfunken! p1b_616.037 Tochter aus Elysium, p1b_616.038 Wir betreten feuertrunken, p1b_616.039 Himmlische, dein Heiligtum. p1b_616.040 Deine Zauber binden wieder, p1b_616.041 Was die Mode streng geteilt; p1b_616.042 Alle Menschen werden Brüder, p1b_616.043 Wo dein sanfter Flügel weilt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/650
Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/650>, abgerufen am 25.05.2024.