Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.p1b_537.001 An das Herz. p1b_537.003Lange schon in manchem Sturm und Drange p1b_537.004 Wandeln meine Füße durch die Welt. p1b_537.005 Bald den Lebensmüden beigesellt, p1b_537.006 Ruh' ich aus von meinem Pilgergange. p1b_537.007 Leise sinkend faltet sich die Wange; p1b_537.008 Jede meiner Blüten welkt und fällt. p1b_537.009 Herz, ich muß dich fragen: Was erhält p1b_537.010 Dich in Kraft und Fülle noch so lange? p1b_537.011 Trotz der Zeit Despoten-Allgewalt p1b_537.012 Fährst du fort, wie in des Lenzes Tagen, p1b_537.013 Liebend wie die Nachtigall, zu schlagen. p1b_537.014 Aber ach! Aurora hört es kalt, p1b_537.015 Was ihr Tithons Lippen Holdes sagen. - p1b_537.016 Herz, ich wollte, du auch würdest alt! p1b_537.017 p1b_537.022 Zwei Reime heiß' ich viermal kehren wieder, p1b_537.025 Und stelle sie, geteilt, in gleiche Reihen, p1b_537.026 Daß hier und dort zwei, eingefaßt von zweien p1b_537.027 Jm Doppelchore schweben auf und nieder. p1b_537.028 Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder p1b_537.029 Sich freier wechselnd, jegliches von dreien. p1b_537.030 Jn solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen p1b_537.031 Die zartesten und stolzesten der Lieder. p1b_537.032 Den werd' ich nie mit meinen Zeilen kränzen, p1b_537.033 Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket, p1b_537.034 Und Eigensinn die künstlichen Gesetze. p1b_537.035 Doch, wenn in mir geheimer Zauber winket, p1b_537.036 Dem leih' ich Hoheit, Füll' in engern Grenzen, p1b_537.037 Und reines Ebenmaß der Gegensätze. p1b_537.038 p1b_537.040 p1b_537.001 An das Herz. p1b_537.003Lange schon in manchem Sturm und Drange p1b_537.004 Wandeln meine Füße durch die Welt. p1b_537.005 Bald den Lebensmüden beigesellt, p1b_537.006 Ruh' ich aus von meinem Pilgergange. p1b_537.007 Leise sinkend faltet sich die Wange; p1b_537.008 Jede meiner Blüten welkt und fällt. p1b_537.009 Herz, ich muß dich fragen: Was erhält p1b_537.010 Dich in Kraft und Fülle noch so lange? p1b_537.011 Trotz der Zeit Despoten-Allgewalt p1b_537.012 Fährst du fort, wie in des Lenzes Tagen, p1b_537.013 Liebend wie die Nachtigall, zu schlagen. p1b_537.014 Aber ach! 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(Vgl. S. 363 d. B.)</p> <p><lb n="p1b_537.040"/> Der Erste, welcher das Sonett im großen Stil anwandte, ist Fr. <hi rendition="#g">Rückert.</hi> <lb n="p1b_537.041"/> Durch ihn wurde es in Deutschland heimisch wie in Jtalien durch den großen <lb n="p1b_537.042"/> Florentiner Petrarka († 1374) und in Portugal durch Camo<hi rendition="#aq">ë</hi>ns (1524─1580). <lb n="p1b_537.043"/> An Rückert schlossen sich W. v. <hi rendition="#g">Humboldt</hi> und <hi rendition="#g">Platen,</hi> welch letzterer Rückerts </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [537/0571]
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Beispiel Bürgers:
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An das Herz.
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Lange schon in manchem Sturm und Drange p1b_537.004
Wandeln meine Füße durch die Welt. p1b_537.005
Bald den Lebensmüden beigesellt, p1b_537.006
Ruh' ich aus von meinem Pilgergange.
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Leise sinkend faltet sich die Wange; p1b_537.008
Jede meiner Blüten welkt und fällt. p1b_537.009
Herz, ich muß dich fragen: Was erhält p1b_537.010
Dich in Kraft und Fülle noch so lange?
p1b_537.011
Trotz der Zeit Despoten-Allgewalt p1b_537.012
Fährst du fort, wie in des Lenzes Tagen, p1b_537.013
Liebend wie die Nachtigall, zu schlagen.
p1b_537.014
Aber ach! Aurora hört es kalt, p1b_537.015
Was ihr Tithons Lippen Holdes sagen. ─ p1b_537.016
Herz, ich wollte, du auch würdest alt!
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Nach Bürger wandten die Romantiker den Jambus in ihren Sonetten p1b_537.018
an. Von einer Pflege des Sonetts durch diese Schule kann keine Rede sein, p1b_537.019
wenn auch ihr Formenmeister A. W. Schlegel einige gute Sonette schuf (z. B. p1b_537.020
Allgemeines Loos, Johannes in der Wüste, Zum Andenken, Bild des Lebens, p1b_537.021
An Bürger).
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Beispiel Schlegelscher Sonette, das Wesen des Sonetts p1b_537.023
behandelnd:
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Zwei Reime heiß' ich viermal kehren wieder, p1b_537.025
Und stelle sie, geteilt, in gleiche Reihen, p1b_537.026
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Jm Doppelchore schweben auf und nieder.
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Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder p1b_537.029
Sich freier wechselnd, jegliches von dreien. p1b_537.030
Jn solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen p1b_537.031
Die zartesten und stolzesten der Lieder.
p1b_537.032
Den werd' ich nie mit meinen Zeilen kränzen, p1b_537.033
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Und Eigensinn die künstlichen Gesetze.
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Doch, wenn in mir geheimer Zauber winket, p1b_537.036
Dem leih' ich Hoheit, Füll' in engern Grenzen, p1b_537.037
Und reines Ebenmaß der Gegensätze.
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Voß schrieb zur Verhöhnung dieser Form ein Sonett, dessen vierzehn Zeilen p1b_537.039
nur je eine Silbe enthalten. (Vgl. S. 363 d. B.)
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Der Erste, welcher das Sonett im großen Stil anwandte, ist Fr. Rückert. p1b_537.041
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Florentiner Petrarka († 1374) und in Portugal durch Camoëns (1524─1580). p1b_537.043
An Rückert schlossen sich W. v. Humboldt und Platen, welch letzterer Rückerts
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