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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Wenn der Himmel und die Erde und das Meer p1b_499.002
Mir so herrlich und so traulich und so hold, p1b_499.003
Strahlend im Schimmer des Abends, p1b_499.004
Lächeln, und Wonnegefühl p1b_499.005
Mich erfüllt u. s. w.

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Jn unserer Poesie ist nur noch die lockere Verbindung der Strophen p1b_499.007
durch ein Komma oder ein Semikolon gestattet, sofern der Sinn den Ruhepunkt p1b_499.008
erhält und die Strophe noch als ein selbständiges Teilganzes erscheinen p1b_499.009
kann. Man vgl. z. B. nachfolgende Strophen Th. Storms aus dem Gedichte p1b_499.010
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Und schauen auch von Turm und Thore p1b_499.012
Der Feinde Wappen jetzt herab, p1b_499.013
Und rissen sie die Trikolore p1b_499.014
Mit wüster Faust von Kranz und Grab,
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Und müßten wir nach diesen Tagen p1b_499.016
Von Herd und Heimat bettelnd gehn, - p1b_499.017
Wir wollens nicht zu laut beklagen, p1b_499.018
Mag, was da muß, mit uns geschehn;
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Und wenn wir hilfelos verderben, p1b_499.020
Wo Keiner unsre Schmerzen kennt, p1b_499.021
Wir lassen unsern spätsten Erben p1b_499.022
Ein treu besiegelt Testament;
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Denn kommen wird das frische Werde, p1b_499.024
Das auch bei uns die Nacht besiegt, p1b_499.025
Der Tag, wo diese deutsche Erde p1b_499.026
Jm Ring des großen Reiches liegt. &c.

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Das dreimalige "Und" stört uns im vorstehenden Gedicht ebensowenig, p1b_499.028
als das "Denn", weil inhaltlich der Ruhepunkt vorausging. Vielmehr wird p1b_499.029
der Rhythmus gehoben, indem durch "und" und "denn" immer neu an p1b_499.030
die Wendung, an den Beginn der neuen Strophe erinnert wird.

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§ 152. Strophisches Charakteristikum.

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Um strophisch abgerundete Bildungen für Auge und Ohr zu erreichen, p1b_499.033
wendet der Dichter irgend ein charakteristisches, eine Strophe p1b_499.034
von der anderen trennendes Strophenmerkmal an. Solche charakteristische p1b_499.035
Merkmale, welche die Strophen als Teilganze markieren, sind:

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I. Der Refrain,

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II. Die regelmäßige Wiederkehr längerer oder kürzerer Zeilen,

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III. Die Abwechselung verschiedener Reime,

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IV. Die Abwechselung im Tongrade,

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V. Die Abwechselung der reimenden Vokale,

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VI. Der Wechsel des Rhythmus,

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VII. Die Anwendung verschiedenartiger Kola.

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/533>, abgerufen am 28.08.2024.