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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Siebentes Hauptstück. p1b_489.002
Die Lehre von den Strophen. ------
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Denn wer durchdrungen ist vom innig Wahren, p1b_489.004
Dem muß die Form sich unbewußt vereinen, p1b_489.005
Und was dem Stümper mag gefährlich scheinen, p1b_489.006
Das muß den Meister göttlich offenbaren. p1b_489.007
Wem Kraft und Fülle tief im Busen keimen, p1b_489.008
Das Wort beherrscht er mit gerechtem Stolze, p1b_489.009
Bewegt sich leicht, wenn auch in schweren Reimen. p1b_489.010
Er schneidet sich des Liedes flüchtge Bolze p1b_489.011
Gewandt und sicher, ohne je zu leimen, p1b_489.012
Und was er fertigt, ist aus ganzem Holze.
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§ 148. Begriffserklärung von Strophen und Alter derselben.

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zu einem metrischen Teilganzen, oder mit andern Worten: Strophe p1b_489.017
ist eine Periode von mehreren unter einander verbundenen Verszeilen. p1b_489.018
Bei einem längeren Gedichte dient meist die erste Strophe allen übrigen p1b_489.019
dieses Gedichts als Muster.

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2. Die Benennung Strophe ist griechischen Ursprungs.

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3. Wie der Reim, so ist auch die Strophe eine Naturnotwendigkeit p1b_489.022
der Poesie. Sie ist daher uralt. Die deutsche Strophik gelangte p1b_489.023
in der mittelhochdeutschen Lyrik zur Blüte.

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1. Erst wenn die Verse zu Versgebäuden, zu metrischen Teilganzen, d. h. p1b_489.025
also zu Strophen verbunden sind, kann man - im Gegensatz zur Prosa - p1b_489.026
von einer gebundenen Rede sprechen. - Jm gewöhnlichen Sprachgebrauch p1b_489.027
hört man häufig - namentlich bei Kirchenliedern - die Strophe als Vers p1b_489.028
bezeichnen, obgleich der Vers oder die Verszeile nur einen Teil der Strophe p1b_489.029
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Wendung und bedeutet die Umwendung zur ursprünglichen Melodie. - Jn p1b_489.032
den Chorliedern der Tragödie kehrten nämlich die Chormitglieder am Ende der

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. E489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/523>, abgerufen am 27.08.2024.