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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Heine und den französischen Lustspieldichtern überschritten. Der Humor steht p1b_146.002
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grausigen Romane von Amadeus Hoffmann.)

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durch welches das Gefühl in den Zustand der Notwehr gedrängt wird, ist p1b_146.014
von der Poesie meist ganz auszuschließen. Ebenso das Unästhetische. p1b_146.015
(Vgl. Rückerts Gedicht "vom mitheimgetragenen Flöhlein", welches Rosenkranz p1b_146.016
in seiner Ästhetik des Häßlichen als Beispiel des Kleinlichen erwähnt.)

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ein Kunstwerk liefern, bei welchem die Gefühle des Betrachtenden nicht erst p1b_146.020
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umfassenden Jdee sich vereinen, die der schöpferischen Jdee des Dichters entspricht p1b_146.023
oder ihr doch verwandt ist.

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Dieses Kunstwerk strahlt in schöner lebensvoller Harmonie zwischen Jnhalt p1b_146.025
und Erscheinung. Es ist das Endziel wie das Jdeal aller Ästhetik.

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ist ─ einen grausigen Eindruck hervorruft. (Jch erinnere an die gespenstig p1b_146.011
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Das aus derselben Quelle fließende Ekelerregende, Lasterhafte &c., p1b_146.013
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von der Poesie meist ganz auszuschließen. Ebenso das Unästhetische. p1b_146.015
(Vgl. Rückerts Gedicht „vom mitheimgetragenen Flöhlein“, welches Rosenkranz p1b_146.016
in seiner Ästhetik des Häßlichen als Beispiel des Kleinlichen erwähnt.)

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Wenn der Dichter in schöner Sprache eine seine Phantasie erfüllende, p1b_146.018
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/180>, abgerufen am 12.05.2024.