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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Zehntes Kapitel.
oder wer genöthigt ist, als Richter einen dahin gehörenden
Rechtsfall zu entscheiden. Jener hat seine Aufgabe erfüllt,
wenn er die thatsächliche Beschaffenheit der Lehre gewissenhaft
darlegt; dieser muß sich mit dem übrigen juristischen Rüstzeug
so gut er kann behelfen, -- also, wenn ihm keine andere Rechts-
quelle zu Gebote steht, aus der Natur der Sache, der bona
fides,
der Analogie u. dgl. seine Entscheidung begründen, und
sich damit trösten, daß das Mangelhafte darin nicht ihm, son-
dern unseren Rechtszuständen zur Last fällt. Mit einem blo-
ßen Zählen der Auctoritäten ist natürlich nichts gewonnen;
denn abgesehen davon, daß auch die reichlichst ausgestattete
Bibliothek nie die Sicherheit gewährt, daß man sich im Besitze
einer vollständigen Literatur befindet, so weiß jeder, der in der
Dogmengeschichte nicht ganz unbewandert ist, wie geringe die
Selbständigkeit der meisten juristischen Schriftsteller ist, und
wie sich die innere Entwicklung des Juristenrechts an einzelne
hervorragende Persönlichkeiten anlehnt, welche als die Reprä-
sentanten einer bestimmten Zeit und Richtung erscheinen, und
oft die früher fest begründeten Lehren von Grund aus erschüt-
tert haben. Nur so viel läßt sich zugeben, daß eine allgemein
angenommene Ansicht nicht dadurch den Charakter einer ge-
meinsamen Ueberzeugung des Juristenstandes verliert, wenn
etwa auch der eine oder der Andere ohne nachhaltigen Erfolg
sich dagegen aufgelehnt hat.

Ich will dieß nun in Beziehung auf einzelne Rechtssätze,
die so in der Praxis herum schwimmen, nicht näher ausfüh-
ren; aber für allgemeinere Institute, welche dem Juristenrecht
ihre Normirung verdanken, wird eine genauere Erörterung, die
sich am Besten an bestimmte Beispiele anlehnt, nicht unange-
messen seyn. Denn an diesen läßt sich recht anschaulich ma-

Zehntes Kapitel.
oder wer genoͤthigt iſt, als Richter einen dahin gehoͤrenden
Rechtsfall zu entſcheiden. Jener hat ſeine Aufgabe erfuͤllt,
wenn er die thatſaͤchliche Beſchaffenheit der Lehre gewiſſenhaft
darlegt; dieſer muß ſich mit dem uͤbrigen juriſtiſchen Ruͤſtzeug
ſo gut er kann behelfen, — alſo, wenn ihm keine andere Rechts-
quelle zu Gebote ſteht, aus der Natur der Sache, der bona
fides,
der Analogie u. dgl. ſeine Entſcheidung begruͤnden, und
ſich damit troͤſten, daß das Mangelhafte darin nicht ihm, ſon-
dern unſeren Rechtszuſtaͤnden zur Laſt faͤllt. Mit einem blo-
ßen Zaͤhlen der Auctoritaͤten iſt natuͤrlich nichts gewonnen;
denn abgeſehen davon, daß auch die reichlichſt ausgeſtattete
Bibliothek nie die Sicherheit gewaͤhrt, daß man ſich im Beſitze
einer vollſtaͤndigen Literatur befindet, ſo weiß jeder, der in der
Dogmengeſchichte nicht ganz unbewandert iſt, wie geringe die
Selbſtaͤndigkeit der meiſten juriſtiſchen Schriftſteller iſt, und
wie ſich die innere Entwicklung des Juriſtenrechts an einzelne
hervorragende Perſoͤnlichkeiten anlehnt, welche als die Repraͤ-
ſentanten einer beſtimmten Zeit und Richtung erſcheinen, und
oft die fruͤher feſt begruͤndeten Lehren von Grund aus erſchuͤt-
tert haben. Nur ſo viel laͤßt ſich zugeben, daß eine allgemein
angenommene Anſicht nicht dadurch den Charakter einer ge-
meinſamen Ueberzeugung des Juriſtenſtandes verliert, wenn
etwa auch der eine oder der Andere ohne nachhaltigen Erfolg
ſich dagegen aufgelehnt hat.

Ich will dieß nun in Beziehung auf einzelne Rechtsſaͤtze,
die ſo in der Praxis herum ſchwimmen, nicht naͤher ausfuͤh-
ren; aber fuͤr allgemeinere Inſtitute, welche dem Juriſtenrecht
ihre Normirung verdanken, wird eine genauere Eroͤrterung, die
ſich am Beſten an beſtimmte Beiſpiele anlehnt, nicht unange-
meſſen ſeyn. Denn an dieſen laͤßt ſich recht anſchaulich ma-

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[318/0330] Zehntes Kapitel. oder wer genoͤthigt iſt, als Richter einen dahin gehoͤrenden Rechtsfall zu entſcheiden. Jener hat ſeine Aufgabe erfuͤllt, wenn er die thatſaͤchliche Beſchaffenheit der Lehre gewiſſenhaft darlegt; dieſer muß ſich mit dem uͤbrigen juriſtiſchen Ruͤſtzeug ſo gut er kann behelfen, — alſo, wenn ihm keine andere Rechts- quelle zu Gebote ſteht, aus der Natur der Sache, der bona fides, der Analogie u. dgl. ſeine Entſcheidung begruͤnden, und ſich damit troͤſten, daß das Mangelhafte darin nicht ihm, ſon- dern unſeren Rechtszuſtaͤnden zur Laſt faͤllt. Mit einem blo- ßen Zaͤhlen der Auctoritaͤten iſt natuͤrlich nichts gewonnen; denn abgeſehen davon, daß auch die reichlichſt ausgeſtattete Bibliothek nie die Sicherheit gewaͤhrt, daß man ſich im Beſitze einer vollſtaͤndigen Literatur befindet, ſo weiß jeder, der in der Dogmengeſchichte nicht ganz unbewandert iſt, wie geringe die Selbſtaͤndigkeit der meiſten juriſtiſchen Schriftſteller iſt, und wie ſich die innere Entwicklung des Juriſtenrechts an einzelne hervorragende Perſoͤnlichkeiten anlehnt, welche als die Repraͤ- ſentanten einer beſtimmten Zeit und Richtung erſcheinen, und oft die fruͤher feſt begruͤndeten Lehren von Grund aus erſchuͤt- tert haben. Nur ſo viel laͤßt ſich zugeben, daß eine allgemein angenommene Anſicht nicht dadurch den Charakter einer ge- meinſamen Ueberzeugung des Juriſtenſtandes verliert, wenn etwa auch der eine oder der Andere ohne nachhaltigen Erfolg ſich dagegen aufgelehnt hat. Ich will dieß nun in Beziehung auf einzelne Rechtsſaͤtze, die ſo in der Praxis herum ſchwimmen, nicht naͤher ausfuͤh- ren; aber fuͤr allgemeinere Inſtitute, welche dem Juriſtenrecht ihre Normirung verdanken, wird eine genauere Eroͤrterung, die ſich am Beſten an beſtimmte Beiſpiele anlehnt, nicht unange- meſſen ſeyn. Denn an dieſen laͤßt ſich recht anſchaulich ma-

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/330>, abgerufen am 17.05.2024.