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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Neuntes Kapitel.
Richtergewalt, wenn auch nur in einer beschränkten Anwen-
dung, bekannt; sie hat sich aber auch selbständig bei germani-
schen Völkern, namentlich bei den Engländern in der jury
oder dem Schwurgericht geltend gemacht. Zwar läßt sich diese
Einrichtung ihrer ursprünglichen Entstehung nach nicht auf
eine solche überlegte Vermittlung zwischen Volks- und Juristenge-
richte zurück führen; denn in Rom hatte sie in der Jurisdic-
tion des Prätors ihre besondere Veranlassung, und als sie
zuerst unter den germanischen Völkern aufkam, gab es bei ih-
nen noch keinen eigenen Juristenstand. Aber es ist unzwei-
felhaft, daß wenigstens die englische Nation mit dem merk-
würdigen politischen Tacte, der ihr eigen ist, das alte Institut
zu diesem Zwecke benutzt hat, und daß man mit dessen späte-
ren Nachbildungen in anderen Staaten dasselbe hat erreichen
wollen. -- Von dieser Modification der reinen Volksgerichte
ist eine andere zu unterscheiden. Es wird im Ganzen die ur-
sprüngliche Gerichtsverfassung beibehalten; allein man verfährt
bei der Besetzung der Gerichte auf eine solche Weise, daß darin
sowohl Volksrichter als auch Juristen ihren Platz finden, welche
sich mit ihren Kenntnissen und ihrer Anschauungsweise gegen-
seitig ergänzen, indem sie in ihrer Vereinigung nicht nur die
schlichte und einfach verständige Betrachtungsweise der Lebens-
verhältnisse, sondern auch die umfassende Kunde des positiven
Rechts und die Consequenz und Schärfe der juristischen De-
duction vertreten. Eine Hinweisung auf diese Combination
enthalten schon die rechtskundigen Berather, welche in den al-
ten deutschen Volksrechten vorkommen; später zeigt sich ein
solches Bedürfniß in der Sitte der Gerichte, Rechtsbelehrungen
einzuholen, wodurch die Competenz der Oberhöfe hervorgerufen
und auch die eigenthümliche Stellung der Juristenfacultäten

Neuntes Kapitel.
Richtergewalt, wenn auch nur in einer beſchraͤnkten Anwen-
dung, bekannt; ſie hat ſich aber auch ſelbſtaͤndig bei germani-
ſchen Voͤlkern, namentlich bei den Englaͤndern in der jury
oder dem Schwurgericht geltend gemacht. Zwar laͤßt ſich dieſe
Einrichtung ihrer urſpruͤnglichen Entſtehung nach nicht auf
eine ſolche uͤberlegte Vermittlung zwiſchen Volks- und Juriſtenge-
richte zuruͤck fuͤhren; denn in Rom hatte ſie in der Jurisdic-
tion des Praͤtors ihre beſondere Veranlaſſung, und als ſie
zuerſt unter den germaniſchen Voͤlkern aufkam, gab es bei ih-
nen noch keinen eigenen Juriſtenſtand. Aber es iſt unzwei-
felhaft, daß wenigſtens die engliſche Nation mit dem merk-
wuͤrdigen politiſchen Tacte, der ihr eigen iſt, das alte Inſtitut
zu dieſem Zwecke benutzt hat, und daß man mit deſſen ſpaͤte-
ren Nachbildungen in anderen Staaten daſſelbe hat erreichen
wollen. — Von dieſer Modification der reinen Volksgerichte
iſt eine andere zu unterſcheiden. Es wird im Ganzen die ur-
ſpruͤngliche Gerichtsverfaſſung beibehalten; allein man verfaͤhrt
bei der Beſetzung der Gerichte auf eine ſolche Weiſe, daß darin
ſowohl Volksrichter als auch Juriſten ihren Platz finden, welche
ſich mit ihren Kenntniſſen und ihrer Anſchauungsweiſe gegen-
ſeitig ergaͤnzen, indem ſie in ihrer Vereinigung nicht nur die
ſchlichte und einfach verſtaͤndige Betrachtungsweiſe der Lebens-
verhaͤltniſſe, ſondern auch die umfaſſende Kunde des poſitiven
Rechts und die Conſequenz und Schaͤrfe der juriſtiſchen De-
duction vertreten. Eine Hinweiſung auf dieſe Combination
enthalten ſchon die rechtskundigen Berather, welche in den al-
ten deutſchen Volksrechten vorkommen; ſpaͤter zeigt ſich ein
ſolches Beduͤrfniß in der Sitte der Gerichte, Rechtsbelehrungen
einzuholen, wodurch die Competenz der Oberhoͤfe hervorgerufen
und auch die eigenthuͤmliche Stellung der Juriſtenfacultaͤten

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[250/0262] Neuntes Kapitel. Richtergewalt, wenn auch nur in einer beſchraͤnkten Anwen- dung, bekannt; ſie hat ſich aber auch ſelbſtaͤndig bei germani- ſchen Voͤlkern, namentlich bei den Englaͤndern in der jury oder dem Schwurgericht geltend gemacht. Zwar laͤßt ſich dieſe Einrichtung ihrer urſpruͤnglichen Entſtehung nach nicht auf eine ſolche uͤberlegte Vermittlung zwiſchen Volks- und Juriſtenge- richte zuruͤck fuͤhren; denn in Rom hatte ſie in der Jurisdic- tion des Praͤtors ihre beſondere Veranlaſſung, und als ſie zuerſt unter den germaniſchen Voͤlkern aufkam, gab es bei ih- nen noch keinen eigenen Juriſtenſtand. Aber es iſt unzwei- felhaft, daß wenigſtens die engliſche Nation mit dem merk- wuͤrdigen politiſchen Tacte, der ihr eigen iſt, das alte Inſtitut zu dieſem Zwecke benutzt hat, und daß man mit deſſen ſpaͤte- ren Nachbildungen in anderen Staaten daſſelbe hat erreichen wollen. — Von dieſer Modification der reinen Volksgerichte iſt eine andere zu unterſcheiden. Es wird im Ganzen die ur- ſpruͤngliche Gerichtsverfaſſung beibehalten; allein man verfaͤhrt bei der Beſetzung der Gerichte auf eine ſolche Weiſe, daß darin ſowohl Volksrichter als auch Juriſten ihren Platz finden, welche ſich mit ihren Kenntniſſen und ihrer Anſchauungsweiſe gegen- ſeitig ergaͤnzen, indem ſie in ihrer Vereinigung nicht nur die ſchlichte und einfach verſtaͤndige Betrachtungsweiſe der Lebens- verhaͤltniſſe, ſondern auch die umfaſſende Kunde des poſitiven Rechts und die Conſequenz und Schaͤrfe der juriſtiſchen De- duction vertreten. Eine Hinweiſung auf dieſe Combination enthalten ſchon die rechtskundigen Berather, welche in den al- ten deutſchen Volksrechten vorkommen; ſpaͤter zeigt ſich ein ſolches Beduͤrfniß in der Sitte der Gerichte, Rechtsbelehrungen einzuholen, wodurch die Competenz der Oberhoͤfe hervorgerufen und auch die eigenthuͤmliche Stellung der Juriſtenfacultaͤten

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/262>, abgerufen am 17.05.2024.