Der Gegenstand der gegenwärtigen Erörterung ist also ausschließlich die Urkundenfälschung und zwar sowohl in ihrer eigentlichen Bedeutung als auch in Beziehung auf diejenigen Fälle, welche das Gesetzbuch (§§. 153-58.) in der Erweiterung des Begriffs darunter befaßt hat. Bei der Behandlung dieses Verbrechens haben die Vorschriften des Code penal (Art. 145-62.) mehrfach zum Vorbilde gedient; doch ist man hierbei mit Vorsicht verfahren, da sich das Französische Gesetzbuch gerade bei diesem Verbrechen von einer gewissen ängstlichen Kasuistik nicht freigehalten, und einzelne wenig gelungene Bestimmungen aufgestellt hat; es möge, abgesehen von der unverhältnißmäßigen Höhe der vor- geschriebenen Strafen, beispielsweise nur daran erinnert werden, daß die Handelspapiere allgemein den öffentlichen Urkunden gleichgesetzt sind. Auf Grund dieser gesetzlichen Vorschriften hat sich aber freilich in Frankreich eine Jurisprudenz ausgebildet, welche gerade in dieser Lehre eine seltene Fülle scharfsinniger Rechtsentwicklungen aufzuweisen hat, und als ein Muster der Kasuistik bezeichnet werden kann. k)
I. Um den Begriff der Urkundenfälschung bestimmen zu können, ist zuvörderst die Bedeutung einer Urkunde festzustellen. Anfangs glaubte man der größeren Deutlichkeit wegen die Ausdrücke "Schrift oder Urkunde" neben einander gebrauchen zu müssen; doch wurde dieß später bedenklich gefunden.
"Die bestehende Gesetzgebung kenne nur eine Fälschung von Ur- kunden, wie die Bestimmungen des Allgem. Landrechts (Th. II. Tit. 20. §. 1380 ff.) ergäben. Die im Entwurf angenommene Zusammenstellung der Ausdrücke "Schrift und Urkunde" beruhe auf der Ansicht, daß man im gemeinen Leben unter Urkunde häufig nur eine solche Schrift ver- stehe, die von Hause aus dazu bestimmt gewesen sei, Rechte und Ver- bindlichkeiten zwischen bestimmten Personen festzustellen und die Existenz derselben zu beweisen, während das Wort "Schrift" auch jedes ander- weite Skriptum bezeichne, welches zwar unter Umständen gleichfalls zum Beweise von Thatsachen dienen könne, jedoch ursprünglich zu diesem Behufe nicht geschrieben worden sei. Indessen sei zu bemerken, daß eine solche Unterscheidung unserem gegenwärtigen gesetzlichen Sprachgebrauche unbekannt sei. Nach dem Vorgange des gemeinen Deutschen Rechts verstehe unsere Gesetzgebung (Allgem. Gerichtsordnung Th. I. Tit. 10. §. 89 ff.) unter Urkunden oder Dokumenten alle Arten von "schriftlichen Nachrichten" und Aufsätzen, die, ohne Rücksicht auf den ursprünglichen
k)Chauveau et Helie Faustin, Theorie du Code penal. chap. XXI-XXVII. II. p. 81-157.
Beseler Kommentar. 31
§§. 247-249. Begriff.
Der Gegenſtand der gegenwärtigen Erörterung iſt alſo ausſchließlich die Urkundenfälſchung und zwar ſowohl in ihrer eigentlichen Bedeutung als auch in Beziehung auf diejenigen Fälle, welche das Geſetzbuch (§§. 153-58.) in der Erweiterung des Begriffs darunter befaßt hat. Bei der Behandlung dieſes Verbrechens haben die Vorſchriften des Code pénal (Art. 145-62.) mehrfach zum Vorbilde gedient; doch iſt man hierbei mit Vorſicht verfahren, da ſich das Franzöſiſche Geſetzbuch gerade bei dieſem Verbrechen von einer gewiſſen ängſtlichen Kaſuiſtik nicht freigehalten, und einzelne wenig gelungene Beſtimmungen aufgeſtellt hat; es möge, abgeſehen von der unverhältnißmäßigen Höhe der vor- geſchriebenen Strafen, beiſpielsweiſe nur daran erinnert werden, daß die Handelspapiere allgemein den öffentlichen Urkunden gleichgeſetzt ſind. Auf Grund dieſer geſetzlichen Vorſchriften hat ſich aber freilich in Frankreich eine Jurisprudenz ausgebildet, welche gerade in dieſer Lehre eine ſeltene Fülle ſcharfſinniger Rechtsentwicklungen aufzuweiſen hat, und als ein Muſter der Kaſuiſtik bezeichnet werden kann. k)
I. Um den Begriff der Urkundenfälſchung beſtimmen zu können, iſt zuvörderſt die Bedeutung einer Urkunde feſtzuſtellen. Anfangs glaubte man der größeren Deutlichkeit wegen die Ausdrücke „Schrift oder Urkunde“ neben einander gebrauchen zu müſſen; doch wurde dieß ſpäter bedenklich gefunden.
„Die beſtehende Geſetzgebung kenne nur eine Fälſchung von Ur- kunden, wie die Beſtimmungen des Allgem. Landrechts (Th. II. Tit. 20. §. 1380 ff.) ergäben. Die im Entwurf angenommene Zuſammenſtellung der Ausdrücke „Schrift und Urkunde“ beruhe auf der Anſicht, daß man im gemeinen Leben unter Urkunde häufig nur eine ſolche Schrift ver- ſtehe, die von Hauſe aus dazu beſtimmt geweſen ſei, Rechte und Ver- bindlichkeiten zwiſchen beſtimmten Perſonen feſtzuſtellen und die Exiſtenz derſelben zu beweiſen, während das Wort „Schrift“ auch jedes ander- weite Skriptum bezeichne, welches zwar unter Umſtänden gleichfalls zum Beweiſe von Thatſachen dienen könne, jedoch urſprünglich zu dieſem Behufe nicht geſchrieben worden ſei. Indeſſen ſei zu bemerken, daß eine ſolche Unterſcheidung unſerem gegenwärtigen geſetzlichen Sprachgebrauche unbekannt ſei. Nach dem Vorgange des gemeinen Deutſchen Rechts verſtehe unſere Geſetzgebung (Allgem. Gerichtsordnung Th. I. Tit. 10. §. 89 ff.) unter Urkunden oder Dokumenten alle Arten von „ſchriftlichen Nachrichten“ und Aufſätzen, die, ohne Rückſicht auf den urſprünglichen
k)Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. chap. XXI-XXVII. II. p. 81-157.
Beſeler Kommentar. 31
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§§. 247-249. Begriff.
Der Gegenſtand der gegenwärtigen Erörterung iſt alſo ausſchließlich
die Urkundenfälſchung und zwar ſowohl in ihrer eigentlichen Bedeutung
als auch in Beziehung auf diejenigen Fälle, welche das Geſetzbuch
(§§. 153-58.) in der Erweiterung des Begriffs darunter befaßt hat.
Bei der Behandlung dieſes Verbrechens haben die Vorſchriften des
Code pénal (Art. 145-62.) mehrfach zum Vorbilde gedient; doch iſt
man hierbei mit Vorſicht verfahren, da ſich das Franzöſiſche Geſetzbuch
gerade bei dieſem Verbrechen von einer gewiſſen ängſtlichen Kaſuiſtik
nicht freigehalten, und einzelne wenig gelungene Beſtimmungen aufgeſtellt
hat; es möge, abgeſehen von der unverhältnißmäßigen Höhe der vor-
geſchriebenen Strafen, beiſpielsweiſe nur daran erinnert werden, daß die
Handelspapiere allgemein den öffentlichen Urkunden gleichgeſetzt ſind.
Auf Grund dieſer geſetzlichen Vorſchriften hat ſich aber freilich in
Frankreich eine Jurisprudenz ausgebildet, welche gerade in dieſer Lehre
eine ſeltene Fülle ſcharfſinniger Rechtsentwicklungen aufzuweiſen hat,
und als ein Muſter der Kaſuiſtik bezeichnet werden kann. k)
I. Um den Begriff der Urkundenfälſchung beſtimmen zu können,
iſt zuvörderſt die Bedeutung einer Urkunde feſtzuſtellen. Anfangs
glaubte man der größeren Deutlichkeit wegen die Ausdrücke „Schrift
oder Urkunde“ neben einander gebrauchen zu müſſen; doch wurde dieß
ſpäter bedenklich gefunden.
„Die beſtehende Geſetzgebung kenne nur eine Fälſchung von Ur-
kunden, wie die Beſtimmungen des Allgem. Landrechts (Th. II. Tit. 20.
§. 1380 ff.) ergäben. Die im Entwurf angenommene Zuſammenſtellung
der Ausdrücke „Schrift und Urkunde“ beruhe auf der Anſicht, daß man
im gemeinen Leben unter Urkunde häufig nur eine ſolche Schrift ver-
ſtehe, die von Hauſe aus dazu beſtimmt geweſen ſei, Rechte und Ver-
bindlichkeiten zwiſchen beſtimmten Perſonen feſtzuſtellen und die Exiſtenz
derſelben zu beweiſen, während das Wort „Schrift“ auch jedes ander-
weite Skriptum bezeichne, welches zwar unter Umſtänden gleichfalls
zum Beweiſe von Thatſachen dienen könne, jedoch urſprünglich zu dieſem
Behufe nicht geſchrieben worden ſei. Indeſſen ſei zu bemerken, daß eine
ſolche Unterſcheidung unſerem gegenwärtigen geſetzlichen Sprachgebrauche
unbekannt ſei. Nach dem Vorgange des gemeinen Deutſchen Rechts
verſtehe unſere Geſetzgebung (Allgem. Gerichtsordnung Th. I. Tit. 10.
§. 89 ff.) unter Urkunden oder Dokumenten alle Arten von „ſchriftlichen
Nachrichten“ und Aufſätzen, die, ohne Rückſicht auf den urſprünglichen
k) Chauveau et Hélie Faustin, Théorie du Code pénal. chap.
XXI-XXVII. II. p. 81-157.
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/483>, abgerufen am 22.12.2024.
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