schweren, fest zusammengeschnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen könnten, oder ist die absinkende Fluh stark mit Gestrüpp und Knieholz bewachsen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerschweren Lasten auf den Schultern hinabzutragen, -- hinabzutragen auf Pfaden, die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Man denke sich eine Felsenwand mehrere hundert Fuß fast loth¬ recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terrasse auf¬ steigend und hoch droben auf dem Felsengerüst die Wildheu- Plangge. Diese ungeheuere Strebemasse, gegen welche der größte Münster, das riesigste Bauwerk der Erde Spielzeug zu sein schei¬ nen, besteht aus emporgerichteten, gleichsam auf die Kanten ge¬ stellten Schiefer-, Kalk- oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung hat in verschiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen und zu Thal gestürzt, so daß, gleichsam terrassirt, horizontal ge¬ neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Gesimse an einem Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬ ten, sind begreiflich auch diese Gesimse nur wenige Zoll oder Fuß breit und bilden jene "Felsenbänder", oder wenn sie bewachsen sind, s. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal gesehen, gleich dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felsen¬ front überspinnen. Es sind die Pfade des Gemsenjägers, des Wildheuers Rechts wächst die Wand jäh, glatt, senkrecht in die Lüfte empor bis zum nächsten Rasenband oder bis zu den Gipfel¬ zacken, -- links sinkt sie ebenso steil in die Tiefe nieder. Da¬ zwischen liegt der Felsenweg, abschüssig, schlüpfrig, bröcklig, oft nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große Thalbild hinschweifen, wenn der Kopf schwindelfrei und an die gewaltigen Eindrücke gewöhnt ist; ein unseliger Blick in die erblauende Tiefe, -- hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬ wälder, die zu Moosdecken zusammengeschrumpft zu sein scheinen, -- reißt den Mann mit magnetischer Kraft zum Todessturz.
Der Wildheuer.
ſchweren, feſt zuſammengeſchnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen könnten, oder iſt die abſinkende Fluh ſtark mit Geſtrüpp und Knieholz bewachſen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerſchweren Laſten auf den Schultern hinabzutragen, — hinabzutragen auf Pfaden, die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu ſetzen.
Man denke ſich eine Felſenwand mehrere hundert Fuß faſt loth¬ recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terraſſe auf¬ ſteigend und hoch droben auf dem Felſengerüſt die Wildheu- Plangge. Dieſe ungeheuere Strebemaſſe, gegen welche der größte Münſter, das rieſigſte Bauwerk der Erde Spielzeug zu ſein ſchei¬ nen, beſteht aus emporgerichteten, gleichſam auf die Kanten ge¬ ſtellten Schiefer-, Kalk- oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung hat in verſchiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen und zu Thal geſtürzt, ſo daß, gleichſam terraſſirt, horizontal ge¬ neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Geſimſe an einem Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬ ten, ſind begreiflich auch dieſe Geſimſe nur wenige Zoll oder Fuß breit und bilden jene „Felſenbänder“, oder wenn ſie bewachſen ſind, ſ. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal geſehen, gleich dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felſen¬ front überſpinnen. Es ſind die Pfade des Gemſenjägers, des Wildheuers Rechts wächſt die Wand jäh, glatt, ſenkrecht in die Lüfte empor bis zum nächſten Raſenband oder bis zu den Gipfel¬ zacken, — links ſinkt ſie ebenſo ſteil in die Tiefe nieder. Da¬ zwiſchen liegt der Felſenweg, abſchüſſig, ſchlüpfrig, bröcklig, oft nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große Thalbild hinſchweifen, wenn der Kopf ſchwindelfrei und an die gewaltigen Eindrücke gewöhnt iſt; ein unſeliger Blick in die erblauende Tiefe, — hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬ wälder, die zu Moosdecken zuſammengeſchrumpft zu ſein ſcheinen, — reißt den Mann mit magnetiſcher Kraft zum Todesſturz.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0422"n="380"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#fr #g">Der Wildheuer</hi>.<lb/></fw>ſchweren, feſt zuſammengeſchnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen<lb/>
könnten, oder iſt die abſinkende Fluh ſtark mit Geſtrüpp und Knieholz<lb/>
bewachſen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat<lb/>
der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerſchweren Laſten<lb/>
auf den Schultern hinabzutragen, — hinabzutragen auf Pfaden,<lb/>
die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu ſetzen.<lb/></p><p>Man denke ſich eine Felſenwand mehrere hundert Fuß faſt loth¬<lb/>
recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terraſſe auf¬<lb/>ſteigend und hoch droben auf dem Felſengerüſt die Wildheu-<lb/>
Plangge. Dieſe ungeheuere Strebemaſſe, gegen welche der größte<lb/>
Münſter, das rieſigſte Bauwerk der Erde Spielzeug zu ſein ſchei¬<lb/>
nen, beſteht aus emporgerichteten, gleichſam auf die Kanten ge¬<lb/>ſtellten Schiefer-, Kalk- oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung<lb/>
hat in verſchiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen<lb/>
und zu Thal geſtürzt, ſo daß, gleichſam terraſſirt, horizontal ge¬<lb/>
neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Geſimſe an einem<lb/>
Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬<lb/>
ten, ſind begreiflich auch dieſe Geſimſe nur wenige Zoll oder Fuß<lb/>
breit und bilden jene „Felſenbänder“, oder wenn ſie bewachſen<lb/>ſind, ſ. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal geſehen, gleich<lb/>
dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felſen¬<lb/>
front überſpinnen. Es ſind die Pfade des Gemſenjägers, des<lb/>
Wildheuers Rechts wächſt die Wand jäh, glatt, ſenkrecht in die<lb/>
Lüfte empor bis zum nächſten Raſenband oder bis zu den Gipfel¬<lb/>
zacken, — links ſinkt ſie ebenſo ſteil in die Tiefe nieder. Da¬<lb/>
zwiſchen liegt der Felſenweg, abſchüſſig, ſchlüpfrig, bröcklig, oft<lb/>
nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große<lb/>
Thalbild hinſchweifen, wenn der Kopf ſchwindelfrei und an die<lb/>
gewaltigen Eindrücke gewöhnt iſt; <hirendition="#g">ein unſeliger Blick</hi> in die<lb/>
erblauende Tiefe, — hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬<lb/>
wälder, die zu Moosdecken zuſammengeſchrumpft zu ſein ſcheinen,<lb/>— reißt den Mann mit magnetiſcher Kraft zum Todesſturz.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[380/0422]
Der Wildheuer.
ſchweren, feſt zuſammengeſchnürten Bündel beim Auffallen zerplatzen
könnten, oder iſt die abſinkende Fluh ſtark mit Geſtrüpp und Knieholz
bewachſen, in welchem das Ballot hängen bleiben könnte, dann hat
der Wildheuer keine andere Wahl, als die zentnerſchweren Laſten
auf den Schultern hinabzutragen, — hinabzutragen auf Pfaden,
die oft kaum Raum bieten, einen Fuß vor den anderen zu ſetzen.
Man denke ſich eine Felſenwand mehrere hundert Fuß faſt loth¬
recht über der darunterliegenden, üppiggrünen Alpen-Terraſſe auf¬
ſteigend und hoch droben auf dem Felſengerüſt die Wildheu-
Plangge. Dieſe ungeheuere Strebemaſſe, gegen welche der größte
Münſter, das rieſigſte Bauwerk der Erde Spielzeug zu ſein ſchei¬
nen, beſteht aus emporgerichteten, gleichſam auf die Kanten ge¬
ſtellten Schiefer-, Kalk- oder Dolomit-Schichten. Die Verwitterung
hat in verſchiedener Höhe einzelne Lagen abgeblättert, gebrochen
und zu Thal geſtürzt, ſo daß, gleichſam terraſſirt, horizontal ge¬
neigte Bruchkanten an der gewaltigen Front, wie Geſimſe an einem
Gebäude hinlaufen. Je nach der Dicke der abgebrochenen Schich¬
ten, ſind begreiflich auch dieſe Geſimſe nur wenige Zoll oder Fuß
breit und bilden jene „Felſenbänder“, oder wenn ſie bewachſen
ſind, ſ. g. Grasbänder (Draie), die vom Thal geſehen, gleich
dünnen, zarten, grünen Litzen die graue oder okerfarbige Felſen¬
front überſpinnen. Es ſind die Pfade des Gemſenjägers, des
Wildheuers Rechts wächſt die Wand jäh, glatt, ſenkrecht in die
Lüfte empor bis zum nächſten Raſenband oder bis zu den Gipfel¬
zacken, — links ſinkt ſie ebenſo ſteil in die Tiefe nieder. Da¬
zwiſchen liegt der Felſenweg, abſchüſſig, ſchlüpfrig, bröcklig, oft
nur wenig Spannen breit. Frei kann das Auge über das große
Thalbild hinſchweifen, wenn der Kopf ſchwindelfrei und an die
gewaltigen Eindrücke gewöhnt iſt; ein unſeliger Blick in die
erblauende Tiefe, — hinab auf die Gipfelpyramiden der Tannen¬
wälder, die zu Moosdecken zuſammengeſchrumpft zu ſein ſcheinen,
— reißt den Mann mit magnetiſcher Kraft zum Todesſturz.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/422>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.