Verschwunden ist das letzte Leben, hier grünt kein Blatt, kein Vogel ruft, Und sebstl der Pfad scheint bang zu beben, So zwischen Wand und Todeskluft.
Lenau.
Aber das Bergvolk ist so gewöhnt an die Größe und Maje¬ stät seiner Alpenwelt, so vertraut mit den entsetzlichen Schreck¬ nissen der Gebirgsnatur, daß es da droben, wo jeder Andere zittern würde, erst recht in seinem Elemente lebt und webt. Die meisten Unglücksfälle, welche beim Herabtragen sich ereignen, entstehen da¬ durch, daß der Träger mit seiner Bürde an irgend einem Strauch oder Felsenvorsprung hängen bleibt, das Gleichgewicht verliert und stürzt. Schon frühzeitig nimmt der Vater den Buben mit in die Berge, daß er sich gewöhnen lerne. Anfangs schreitet dieser wohl etwas befangen längs den Abgründen, hält sich am Gestein fest und läßt mit Herzklopfen, in bangender Neugier den Blick nieder¬ sinken auf die Waldnacht in den Tobeln, auf den tief drunten rauschenden Bergbach oder auf die silberblinkenden, steinbeschwerten Schindeldächer der Sennhütten, während der Alte mit schwerer Last im Nacken, sichergewohnten Schrittes ihm folgt, überrechnend, ob er mit dem Ertrage seines Tagewerkes den Zins auf Michaeli werde decken können. Aber es macht dem Buben Freude, es ist der Durchbruch des zähen, trotzigen, nach Selbstständigkeit ringen¬ den Naturells, das allen Gebirgsvölkern eigen ist, die im Kampfe mit der sie umgebenden Natur groß werden. Welches Loos harrt denn des Knaben? Muß er nicht das Handwerk des Vaters auch einst ergreifen? Ihm bleibt keine Wahl.
Weiter drunten, wo der Berg sich behaglich auszudehnen be¬ ginnt, am Fuße der Schreckenswände, stehen kleine Heuspeicher, kunstlose Holzhütten, -- "Bargaun" nennt sie der romanische Grau¬ bündner, -- "Gäden" der deutsche Schweizer; in diesen birgt der erntende Wagehals sein gewonnenes Wildheu den Herbst über, bis der Schlittweg des Winters ihm bequeme Gelegenheit giebt, die
Der Wildheuer.
Verſchwunden iſt das letzte Leben, hier grünt kein Blatt, kein Vogel ruft, Und ſebſtl der Pfad ſcheint bang zu beben, So zwiſchen Wand und Todeskluft.
Lenau.
Aber das Bergvolk iſt ſo gewöhnt an die Größe und Maje¬ ſtät ſeiner Alpenwelt, ſo vertraut mit den entſetzlichen Schreck¬ niſſen der Gebirgsnatur, daß es da droben, wo jeder Andere zittern würde, erſt recht in ſeinem Elemente lebt und webt. Die meiſten Unglücksfälle, welche beim Herabtragen ſich ereignen, entſtehen da¬ durch, daß der Träger mit ſeiner Bürde an irgend einem Strauch oder Felſenvorſprung hängen bleibt, das Gleichgewicht verliert und ſtürzt. Schon frühzeitig nimmt der Vater den Buben mit in die Berge, daß er ſich gewöhnen lerne. Anfangs ſchreitet dieſer wohl etwas befangen längs den Abgründen, hält ſich am Geſtein feſt und läßt mit Herzklopfen, in bangender Neugier den Blick nieder¬ ſinken auf die Waldnacht in den Tobeln, auf den tief drunten rauſchenden Bergbach oder auf die ſilberblinkenden, ſteinbeſchwerten Schindeldächer der Sennhütten, während der Alte mit ſchwerer Laſt im Nacken, ſichergewohnten Schrittes ihm folgt, überrechnend, ob er mit dem Ertrage ſeines Tagewerkes den Zins auf Michaeli werde decken können. Aber es macht dem Buben Freude, es iſt der Durchbruch des zähen, trotzigen, nach Selbſtſtändigkeit ringen¬ den Naturells, das allen Gebirgsvölkern eigen iſt, die im Kampfe mit der ſie umgebenden Natur groß werden. Welches Loos harrt denn des Knaben? Muß er nicht das Handwerk des Vaters auch einſt ergreifen? Ihm bleibt keine Wahl.
Weiter drunten, wo der Berg ſich behaglich auszudehnen be¬ ginnt, am Fuße der Schreckenswände, ſtehen kleine Heuſpeicher, kunſtloſe Holzhütten, — „Bargaun“ nennt ſie der romaniſche Grau¬ bündner, — „Gäden“ der deutſche Schweizer; in dieſen birgt der erntende Wagehals ſein gewonnenes Wildheu den Herbſt über, bis der Schlittweg des Winters ihm bequeme Gelegenheit giebt, die
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Der Wildheuer.
Verſchwunden iſt das letzte Leben,
hier grünt kein Blatt, kein Vogel ruft,
Und ſebſtl der Pfad ſcheint bang zu beben,
So zwiſchen Wand und Todeskluft.
Lenau.
Aber das Bergvolk iſt ſo gewöhnt an die Größe und Maje¬
ſtät ſeiner Alpenwelt, ſo vertraut mit den entſetzlichen Schreck¬
niſſen der Gebirgsnatur, daß es da droben, wo jeder Andere zittern
würde, erſt recht in ſeinem Elemente lebt und webt. Die meiſten
Unglücksfälle, welche beim Herabtragen ſich ereignen, entſtehen da¬
durch, daß der Träger mit ſeiner Bürde an irgend einem Strauch
oder Felſenvorſprung hängen bleibt, das Gleichgewicht verliert und
ſtürzt. Schon frühzeitig nimmt der Vater den Buben mit in die
Berge, daß er ſich gewöhnen lerne. Anfangs ſchreitet dieſer wohl
etwas befangen längs den Abgründen, hält ſich am Geſtein feſt
und läßt mit Herzklopfen, in bangender Neugier den Blick nieder¬
ſinken auf die Waldnacht in den Tobeln, auf den tief drunten
rauſchenden Bergbach oder auf die ſilberblinkenden, ſteinbeſchwerten
Schindeldächer der Sennhütten, während der Alte mit ſchwerer
Laſt im Nacken, ſichergewohnten Schrittes ihm folgt, überrechnend,
ob er mit dem Ertrage ſeines Tagewerkes den Zins auf Michaeli
werde decken können. Aber es macht dem Buben Freude, es iſt
der Durchbruch des zähen, trotzigen, nach Selbſtſtändigkeit ringen¬
den Naturells, das allen Gebirgsvölkern eigen iſt, die im Kampfe
mit der ſie umgebenden Natur groß werden. Welches Loos harrt
denn des Knaben? Muß er nicht das Handwerk des Vaters auch
einſt ergreifen? Ihm bleibt keine Wahl.
Weiter drunten, wo der Berg ſich behaglich auszudehnen be¬
ginnt, am Fuße der Schreckenswände, ſtehen kleine Heuſpeicher,
kunſtloſe Holzhütten, — „Bargaun“ nennt ſie der romaniſche Grau¬
bündner, — „Gäden“ der deutſche Schweizer; in dieſen birgt der
erntende Wagehals ſein gewonnenes Wildheu den Herbſt über, bis
der Schlittweg des Winters ihm bequeme Gelegenheit giebt, die
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/423>, abgerufen am 22.11.2024.
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