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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Gebirgs-Pässe und Alpen-Straßen.
und von diesem über schmale Grasplanken und Felsenbänder zur
Muttalp. Das "Hohe Loch" geht durch einen röthlichen Kalk¬
felsen und bietet einen so schmalen Durchpaß dar, daß nur eine
Person um die andere denselben durchkriechen kann. Steckt man
den Kopf durch das Loch, so sieht man aus diesem Felsenfenster
unmittelbar in die grauenvolle Tiefe des Limmerntobels hinab.
Nur kühne Gemsenjäger und entschlossene, schwindelfreie Berggänger
wagen diesen Weg zu nehmen, da man außerdem lange durch den
im schauerlichen Limmerntobel fließenden Bach waten und an einer
Stelle, beim Nothstein, von einem Felsenabsatze in das Wasser
herunterspringen muß, wenn der Bach, wie dies häufig geschieht,
das Tannenbäumchen hinweggeschwemmt hat, das die Jäger dort
hinstellen, um an demselben hinunter zu klettern.

Es giebt indessen weit höher steigende Gletscher-Pässe, die viel
ungefährlicher zu begehen sind, wie z. B. das Langtaufer Joch
(9697 Fuß) am Oezthaler Ferner und das Hochthor (7860 Fuß)
unterm Groß-Glockner in Tyrol, der Paß über Monte Moro (8386
Fuß), Col d' Oren (9687) über den Arolla-Gletscher aus dem
Val d' Herins ins Piemontesische Val Pellina, -- und ganz be¬
sonders das Matterjoch oder Passage St. Theodule (10242 Fuß)
unterm Mont Cervin, aus dem Zermatter Thal ins Tournanche,
welchen, trotzdem er vier Stunden über Gletscher-Eis führt, nicht nur
Weiber begehen, sondern der im October und November, wenn die
Gletscherspalten mit tragenden Schneebrücken überspannt sind, so¬
gar mit Maulthieren und Vieh betrieben wird.

Die schlimmsten Uebergänge endlich, die indessen die, zum fest¬
stehenden Begriff gewordene Bezeichnung "Paß" kaum mehr ver¬
dienen, sind jene, nur ganz beherzten, stahlkräftigen, völlig schwin¬
delfreien Männern passirbar möglichen Eiswüsten-Wege, die allen
den gleichen Bedingungen und Zufällen unterliegen wie Expedi¬
tionen zu den Hochalpen-Spitzen. Es giebt deren einige, die
großen Ruf in der Touristen-Welt haben und allsommerlich mehrere¬

Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.
und von dieſem über ſchmale Grasplanken und Felſenbänder zur
Muttalp. Das „Hohe Loch“ geht durch einen röthlichen Kalk¬
felſen und bietet einen ſo ſchmalen Durchpaß dar, daß nur eine
Perſon um die andere denſelben durchkriechen kann. Steckt man
den Kopf durch das Loch, ſo ſieht man aus dieſem Felſenfenſter
unmittelbar in die grauenvolle Tiefe des Limmerntobels hinab.
Nur kühne Gemſenjäger und entſchloſſene, ſchwindelfreie Berggänger
wagen dieſen Weg zu nehmen, da man außerdem lange durch den
im ſchauerlichen Limmerntobel fließenden Bach waten und an einer
Stelle, beim Nothſtein, von einem Felſenabſatze in das Waſſer
herunterſpringen muß, wenn der Bach, wie dies häufig geſchieht,
das Tannenbäumchen hinweggeſchwemmt hat, das die Jäger dort
hinſtellen, um an demſelben hinunter zu klettern.

Es giebt indeſſen weit höher ſteigende Gletſcher-Päſſe, die viel
ungefährlicher zu begehen ſind, wie z. B. das Langtaufer Joch
(9697 Fuß) am Oezthaler Ferner und das Hochthor (7860 Fuß)
unterm Groß-Glockner in Tyrol, der Paß über Monte Moro (8386
Fuß), Col d' Oren (9687) über den Arolla-Gletſcher aus dem
Val d' Hérins ins Piemonteſiſche Val Pellina, — und ganz be¬
ſonders das Matterjoch oder Passage St. Théodule (10242 Fuß)
unterm Mont Cervin, aus dem Zermatter Thal ins Tournanche,
welchen, trotzdem er vier Stunden über Gletſcher-Eis führt, nicht nur
Weiber begehen, ſondern der im October und November, wenn die
Gletſcherſpalten mit tragenden Schneebrücken überſpannt ſind, ſo¬
gar mit Maulthieren und Vieh betrieben wird.

Die ſchlimmſten Uebergänge endlich, die indeſſen die, zum feſt¬
ſtehenden Begriff gewordene Bezeichnung „Paß“ kaum mehr ver¬
dienen, ſind jene, nur ganz beherzten, ſtahlkräftigen, völlig ſchwin¬
delfreien Männern paſſirbar möglichen Eiswüſten-Wege, die allen
den gleichen Bedingungen und Zufällen unterliegen wie Expedi¬
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[311/0347] Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. und von dieſem über ſchmale Grasplanken und Felſenbänder zur Muttalp. Das „Hohe Loch“ geht durch einen röthlichen Kalk¬ felſen und bietet einen ſo ſchmalen Durchpaß dar, daß nur eine Perſon um die andere denſelben durchkriechen kann. Steckt man den Kopf durch das Loch, ſo ſieht man aus dieſem Felſenfenſter unmittelbar in die grauenvolle Tiefe des Limmerntobels hinab. Nur kühne Gemſenjäger und entſchloſſene, ſchwindelfreie Berggänger wagen dieſen Weg zu nehmen, da man außerdem lange durch den im ſchauerlichen Limmerntobel fließenden Bach waten und an einer Stelle, beim Nothſtein, von einem Felſenabſatze in das Waſſer herunterſpringen muß, wenn der Bach, wie dies häufig geſchieht, das Tannenbäumchen hinweggeſchwemmt hat, das die Jäger dort hinſtellen, um an demſelben hinunter zu klettern. Es giebt indeſſen weit höher ſteigende Gletſcher-Päſſe, die viel ungefährlicher zu begehen ſind, wie z. B. das Langtaufer Joch (9697 Fuß) am Oezthaler Ferner und das Hochthor (7860 Fuß) unterm Groß-Glockner in Tyrol, der Paß über Monte Moro (8386 Fuß), Col d' Oren (9687) über den Arolla-Gletſcher aus dem Val d' Hérins ins Piemonteſiſche Val Pellina, — und ganz be¬ ſonders das Matterjoch oder Passage St. Théodule (10242 Fuß) unterm Mont Cervin, aus dem Zermatter Thal ins Tournanche, welchen, trotzdem er vier Stunden über Gletſcher-Eis führt, nicht nur Weiber begehen, ſondern der im October und November, wenn die Gletſcherſpalten mit tragenden Schneebrücken überſpannt ſind, ſo¬ gar mit Maulthieren und Vieh betrieben wird. Die ſchlimmſten Uebergänge endlich, die indeſſen die, zum feſt¬ ſtehenden Begriff gewordene Bezeichnung „Paß“ kaum mehr ver¬ dienen, ſind jene, nur ganz beherzten, ſtahlkräftigen, völlig ſchwin¬ delfreien Männern paſſirbar möglichen Eiswüſten-Wege, die allen den gleichen Bedingungen und Zufällen unterliegen wie Expedi¬ tionen zu den Hochalpen-Spitzen. Es giebt deren einige, die großen Ruf in der Touriſten-Welt haben und allſommerlich mehrere¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/347>, abgerufen am 18.05.2024.