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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Gebirgs-Pässe und Alpen-Straßen.
röllhalden lavirt der, mehr in der Erinnerung des Paß-Gängers
vorhandene oder durch einzelne Orientirungs-Momente eigentlich erst
zu schaffende Weg nach dem kluftigen Felsen-Gewirr hinauf, in
dessen tiefster Einsattelung der Uebergangspunkt liegt. Hier senkt
sich nicht, wie auf jenen couranten Pässen, eine muldige Hochebene
zwischen dem breiten Rücken des Gebirgszuges ein, mit dem in bei¬
nahe ewigen Naturschlafe ruhenden Bergsee; meist scheidet der scharfe
zackige, wenige Fuß breite Grat das Diesseits und Jenseits, pracht¬
volle Rück- und Vorblicke gestattend, wie z. B. beim Juchli (6905
Fuß) zwischen dem Engelberger- und Melch-Thal im Kanton Unter¬
walden, bei der Gocht in den Churfirsten zwischen Quinten am
Wallen-See und Alt-St. Johann im Toggenburg, -- bei der
Saxer Lucke im Appenzeller Alpstein u. a. m. Paßpfade dieser
Art zeigen sich meist in den zerrissenen, an Felsensplittern reichen
Kalkalpen.

Wilder und in der Regel ungeheuerlicher sind jene Scheideggen,
die über die Schneegränze heinaufsteigen, wie es z. B. bei dem
Segnas- oder Flimser-Paß, (8081 Fuß, zwischen den Kantonen Glarus
und Graubünden) der Fall ist, wo ein schmaler, schwarz-grauer
Kalkrücken aus den Firnlagern steil aufsteigt; hier ist das berühmte
Martinsloch, ein natürliches Felsenfenster von bedeutender Breite
in der Tschingelwand, durch welches im März und September
während drei Tagen die Sonne das Glarner Dorf Elm bescheint.
Auf diesem Paß wüthen die Schneestürme mit diabolischer Wucht
und schon viele Wanderer wurden hier oben eine Beute derselben.
Andere, welche sich verirrten und glaubten, der Weg führe durch das
Martinsloch, stürzten über den Felsenhang herunter und mußten
von den Aelplern, schwer verwundet, hinabgeschafft werden. Noch
schauerlicher ist der westliche Nachbar desselben, der 8500 Fuß
hohe Kisten-Paß, der von Linththal (Kanton Glarus) nach Brigels
(im Bündner Vorder-Rheinthal) führt. Dort zieht sich der Weg
an den Felsenwänden des Ruchi nach dem s. g. "Hohen Loch"

Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen.
röllhalden lavirt der, mehr in der Erinnerung des Paß-Gängers
vorhandene oder durch einzelne Orientirungs-Momente eigentlich erſt
zu ſchaffende Weg nach dem kluftigen Felſen-Gewirr hinauf, in
deſſen tiefſter Einſattelung der Uebergangspunkt liegt. Hier ſenkt
ſich nicht, wie auf jenen couranten Päſſen, eine muldige Hochebene
zwiſchen dem breiten Rücken des Gebirgszuges ein, mit dem in bei¬
nahe ewigen Naturſchlafe ruhenden Bergſee; meiſt ſcheidet der ſcharfe
zackige, wenige Fuß breite Grat das Dieſſeits und Jenſeits, pracht¬
volle Rück- und Vorblicke geſtattend, wie z. B. beim Juchli (6905
Fuß) zwiſchen dem Engelberger- und Melch-Thal im Kanton Unter¬
walden, bei der Gocht in den Churfirſten zwiſchen Quinten am
Wallen-See und Alt-St. Johann im Toggenburg, — bei der
Saxer Lucke im Appenzeller Alpſtein u. a. m. Paßpfade dieſer
Art zeigen ſich meiſt in den zerriſſenen, an Felſenſplittern reichen
Kalkalpen.

Wilder und in der Regel ungeheuerlicher ſind jene Scheideggen,
die über die Schneegränze heinaufſteigen, wie es z. B. bei dem
Segnas- oder Flimſer-Paß, (8081 Fuß, zwiſchen den Kantonen Glarus
und Graubünden) der Fall iſt, wo ein ſchmaler, ſchwarz-grauer
Kalkrücken aus den Firnlagern ſteil aufſteigt; hier iſt das berühmte
Martinsloch, ein natürliches Felſenfenſter von bedeutender Breite
in der Tſchingelwand, durch welches im März und September
während drei Tagen die Sonne das Glarner Dorf Elm beſcheint.
Auf dieſem Paß wüthen die Schneeſtürme mit diaboliſcher Wucht
und ſchon viele Wanderer wurden hier oben eine Beute derſelben.
Andere, welche ſich verirrten und glaubten, der Weg führe durch das
Martinsloch, ſtürzten über den Felſenhang herunter und mußten
von den Aelplern, ſchwer verwundet, hinabgeſchafft werden. Noch
ſchauerlicher iſt der weſtliche Nachbar deſſelben, der 8500 Fuß
hohe Kiſten-Paß, der von Linththal (Kanton Glarus) nach Brigels
(im Bündner Vorder-Rheinthal) führt. Dort zieht ſich der Weg
an den Felſenwänden des Ruchi nach dem ſ. g. „Hohen Loch“

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[310/0346] Gebirgs-Päſſe und Alpen-Straßen. röllhalden lavirt der, mehr in der Erinnerung des Paß-Gängers vorhandene oder durch einzelne Orientirungs-Momente eigentlich erſt zu ſchaffende Weg nach dem kluftigen Felſen-Gewirr hinauf, in deſſen tiefſter Einſattelung der Uebergangspunkt liegt. Hier ſenkt ſich nicht, wie auf jenen couranten Päſſen, eine muldige Hochebene zwiſchen dem breiten Rücken des Gebirgszuges ein, mit dem in bei¬ nahe ewigen Naturſchlafe ruhenden Bergſee; meiſt ſcheidet der ſcharfe zackige, wenige Fuß breite Grat das Dieſſeits und Jenſeits, pracht¬ volle Rück- und Vorblicke geſtattend, wie z. B. beim Juchli (6905 Fuß) zwiſchen dem Engelberger- und Melch-Thal im Kanton Unter¬ walden, bei der Gocht in den Churfirſten zwiſchen Quinten am Wallen-See und Alt-St. Johann im Toggenburg, — bei der Saxer Lucke im Appenzeller Alpſtein u. a. m. Paßpfade dieſer Art zeigen ſich meiſt in den zerriſſenen, an Felſenſplittern reichen Kalkalpen. Wilder und in der Regel ungeheuerlicher ſind jene Scheideggen, die über die Schneegränze heinaufſteigen, wie es z. B. bei dem Segnas- oder Flimſer-Paß, (8081 Fuß, zwiſchen den Kantonen Glarus und Graubünden) der Fall iſt, wo ein ſchmaler, ſchwarz-grauer Kalkrücken aus den Firnlagern ſteil aufſteigt; hier iſt das berühmte Martinsloch, ein natürliches Felſenfenſter von bedeutender Breite in der Tſchingelwand, durch welches im März und September während drei Tagen die Sonne das Glarner Dorf Elm beſcheint. Auf dieſem Paß wüthen die Schneeſtürme mit diaboliſcher Wucht und ſchon viele Wanderer wurden hier oben eine Beute derſelben. Andere, welche ſich verirrten und glaubten, der Weg führe durch das Martinsloch, ſtürzten über den Felſenhang herunter und mußten von den Aelplern, ſchwer verwundet, hinabgeſchafft werden. Noch ſchauerlicher iſt der weſtliche Nachbar deſſelben, der 8500 Fuß hohe Kiſten-Paß, der von Linththal (Kanton Glarus) nach Brigels (im Bündner Vorder-Rheinthal) führt. Dort zieht ſich der Weg an den Felſenwänden des Ruchi nach dem ſ. g. „Hohen Loch“

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/346>, abgerufen am 17.05.2024.