eine mit Gras und Wachholder-Gebüsch bewachsene, nur einen Fuß breite und wenig Fuß lange Felsenplatte war, die im Rücken von einer beinahe überhangenden Granitwand geschlossen wurde und vorn mehrere Hundert Fuß senkrecht abstürzte. Es mußte fast wie ein Wunder erschei¬ nen, daß der Unglückliche überhaupt rutschend oder fallend diesen Punkt erreichen konnte; ohne das aufhaltende, seinen Sturz hemmende Gesträuch, in welchem noch Fetzen der zerrissenen Blouse hingen, wäre er über die Felsenplatte hinaus, ohne dieselbe zu berühren, der Tiefe zugestürzt. Auf dieser Plattform, die kaum genügenden Raum für einen Menschen bot, mußte der Fremde die ganze lange finstere Nacht über, ohne einen Fuß zu regen, aufrecht stehend zubringen, immer den gräßlichen Tod des Verhungerns oder des zerschellenden Sturzes vor Augen, ohne Aussicht und Hoffnung auf Errettung.
Die Zerklüftung der Ufer ist die Erzeugerin der Moränen. Werfen wir einen Blick auf die unserem Buche beigeheftete Ab¬ bildung eines Gletschers (zu welchem die mittlere Parthie des Gornergletschers mit dem Riffelhorn und dem Monte Rosa im Hintergrunde, die Motive abgaben, während das Gletscherthor -- um ein instruktiv-übersichtliches Bild zu geben -- verkürzt einge¬ zeichnet wurde), so erblicken wir hinter der Region der Gletscher- Nadeln, langgezogene Steinlinien, welche sich weit bis in die Per¬ spective fortsetzen. Dies sind die Moränen oder Gandecken, auch Gufferlinien genannt. Was Hitze und Frost, Regen und Unwetter an den Gebirgsmauern zersetzen, losspalten, ab¬ bröckeln, das fällt hinunter auf die Firnfelder (wenns in den Hochregionen ist) oder auf die Gletscherränder und rückt mit diesen Massen fort. Der Firn wie der Gletscher haben sozusagen eine ausstoßende Kraft, sie leiden keine fremden Stosse in ihrem Körper; was Jahre lang in Firnschründen begraben lag, wird durch die Abschmelzung der Oberfläche und den gleichsam hebenden Druck im Fortrücken, nach und nach auf den Rücken des Eiskör¬ pers gebracht. So auch die Felsenbrocken. Triffts nun, daß,
Der Gletſcher.
eine mit Gras und Wachholder-Gebüſch bewachſene, nur einen Fuß breite und wenig Fuß lange Felſenplatte war, die im Rücken von einer beinahe überhangenden Granitwand geſchloſſen wurde und vorn mehrere Hundert Fuß ſenkrecht abſtürzte. Es mußte faſt wie ein Wunder erſchei¬ nen, daß der Unglückliche überhaupt rutſchend oder fallend dieſen Punkt erreichen konnte; ohne das aufhaltende, ſeinen Sturz hemmende Geſträuch, in welchem noch Fetzen der zerriſſenen Blouſe hingen, wäre er über die Felſenplatte hinaus, ohne dieſelbe zu berühren, der Tiefe zugeſtürzt. Auf dieſer Plattform, die kaum genügenden Raum für einen Menſchen bot, mußte der Fremde die ganze lange finſtere Nacht über, ohne einen Fuß zu regen, aufrecht ſtehend zubringen, immer den gräßlichen Tod des Verhungerns oder des zerſchellenden Sturzes vor Augen, ohne Ausſicht und Hoffnung auf Errettung.
Die Zerklüftung der Ufer iſt die Erzeugerin der Moränen. Werfen wir einen Blick auf die unſerem Buche beigeheftete Ab¬ bildung eines Gletſchers (zu welchem die mittlere Parthie des Gornergletſchers mit dem Riffelhorn und dem Monte Roſa im Hintergrunde, die Motive abgaben, während das Gletſcherthor — um ein inſtruktiv-überſichtliches Bild zu geben — verkürzt einge¬ zeichnet wurde), ſo erblicken wir hinter der Region der Gletſcher- Nadeln, langgezogene Steinlinien, welche ſich weit bis in die Per¬ ſpective fortſetzen. Dies ſind die Moränen oder Gandecken, auch Gufferlinien genannt. Was Hitze und Froſt, Regen und Unwetter an den Gebirgsmauern zerſetzen, losſpalten, ab¬ bröckeln, das fällt hinunter auf die Firnfelder (wenns in den Hochregionen iſt) oder auf die Gletſcherränder und rückt mit dieſen Maſſen fort. Der Firn wie der Gletſcher haben ſozuſagen eine ausſtoßende Kraft, ſie leiden keine fremden Stoſſe in ihrem Körper; was Jahre lang in Firnſchründen begraben lag, wird durch die Abſchmelzung der Oberfläche und den gleichſam hebenden Druck im Fortrücken, nach und nach auf den Rücken des Eiskör¬ pers gebracht. So auch die Felſenbrocken. Triffts nun, daß,
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Der Gletſcher.
eine mit Gras und Wachholder-Gebüſch bewachſene, nur einen Fuß breite
und wenig Fuß lange Felſenplatte war, die im Rücken von einer
beinahe überhangenden Granitwand geſchloſſen wurde und vorn mehrere
Hundert Fuß ſenkrecht abſtürzte. Es mußte faſt wie ein Wunder erſchei¬
nen, daß der Unglückliche überhaupt rutſchend oder fallend dieſen
Punkt erreichen konnte; ohne das aufhaltende, ſeinen Sturz hemmende
Geſträuch, in welchem noch Fetzen der zerriſſenen Blouſe hingen, wäre
er über die Felſenplatte hinaus, ohne dieſelbe zu berühren, der Tiefe
zugeſtürzt. Auf dieſer Plattform, die kaum genügenden Raum für
einen Menſchen bot, mußte der Fremde die ganze lange finſtere Nacht
über, ohne einen Fuß zu regen, aufrecht ſtehend zubringen, immer
den gräßlichen Tod des Verhungerns oder des zerſchellenden
Sturzes vor Augen, ohne Ausſicht und Hoffnung auf Errettung.
Die Zerklüftung der Ufer iſt die Erzeugerin der Moränen.
Werfen wir einen Blick auf die unſerem Buche beigeheftete Ab¬
bildung eines Gletſchers (zu welchem die mittlere Parthie des
Gornergletſchers mit dem Riffelhorn und dem Monte Roſa im
Hintergrunde, die Motive abgaben, während das Gletſcherthor —
um ein inſtruktiv-überſichtliches Bild zu geben — verkürzt einge¬
zeichnet wurde), ſo erblicken wir hinter der Region der Gletſcher-
Nadeln, langgezogene Steinlinien, welche ſich weit bis in die Per¬
ſpective fortſetzen. Dies ſind die Moränen oder Gandecken,
auch Gufferlinien genannt. Was Hitze und Froſt, Regen
und Unwetter an den Gebirgsmauern zerſetzen, losſpalten, ab¬
bröckeln, das fällt hinunter auf die Firnfelder (wenns in den
Hochregionen iſt) oder auf die Gletſcherränder und rückt mit dieſen
Maſſen fort. Der Firn wie der Gletſcher haben ſozuſagen eine
ausſtoßende Kraft, ſie leiden keine fremden Stoſſe in ihrem
Körper; was Jahre lang in Firnſchründen begraben lag, wird durch
die Abſchmelzung der Oberfläche und den gleichſam hebenden
Druck im Fortrücken, nach und nach auf den Rücken des Eiskör¬
pers gebracht. So auch die Felſenbrocken. Triffts nun, daß,
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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/261>, abgerufen am 17.07.2024.
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