Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Gletscher.
samen Abhängen von Trelaporte emporkletternd, sich verstiegen und
die ganze Nacht auf einer fast unnahbaren Klippe zugebracht.
Nach seiner Erzählung war er am vorhergehenden Nachmittage
ausgeglitten, an einem Felsen herabgestürzt, und wäre wahrscheinlich
zerschmettert in der Tiefe angekommen, wenn nicht seine Kleider an wil¬
dem Gesträuch hangen geblieben wären und so seinen völligen Todes¬
sturz gehemmt hätten. Darauf hatte er eine Felsplatte erreicht, die, rings
von schauerlichen Abgründen umgeben, für ihn zum hoffnungslosen
Gefängniß ward. Die Nacht war nicht allzu kalt, so daß er sein
Leben unter zersetzender Angst zu fristen vermochte, und als es
Tag geworden war, hatte er die beiden jungen Männer in großer
Ferne erblickt und sie durch Rufen herbeigezogen. Die kühnen Berg¬
gänger kletterten nun zwar auf weiten Umwegen so nahe herzu,
daß sie über ihm sich postiren konnten; aber ihre gemeinschaftlichen
Anstrengungen würden nicht ausgereicht haben, ihn zu erlösen, wenn
nicht, wie durch eine Fügung der Vorsehung, Herr Forbes am gleichen
Morgen diese selten besuchte Gegend betreten und seinen Führer nach
Wasser ausgesandt haben würde. Während dieser nun nach Wasser
ausspähte, erblickte er die mit Rettungsversuchen sich abmühenden
Burschen und schloß unaufgefordert sich ihnen an. Seinem seltenen
Muthe, seiner Ausdauer und Verwegenheit, so wie seinen enormen
physischen Kräften gelang es endlich, den Aermsten aus einer Lage
zu befreien, in welcher selbst die verwegene Gemse umgekommen
wäre. Balmat erzählte, daß er, an einer fast glatten Felsenwand,
gleichsam klebend, seinen Fuß habe ausgleiten fühlen, als er das
ganze Gewicht des fremden Mannes auf sich trug, und schon sich
und den Anderen verloren gegeben habe, als er sich noch anklam¬
mern und halten konnte. Nachdem Herr Forbes Alle mit Wein ein
wenig gestärkt hatte, sandte er den Fremden, dessen Gehirnnerven be¬
denklich afficirt zu sein schienen, in Begleitung der beiden Bursche
nach Chamouny hinab, während er mit Balmat selbst den Schreckensort
aufsuchte. Seine ausführliche Schilderung desselben bestätigt, daß es

Der Gletſcher.
ſamen Abhängen von Trélaporte emporkletternd, ſich verſtiegen und
die ganze Nacht auf einer faſt unnahbaren Klippe zugebracht.
Nach ſeiner Erzählung war er am vorhergehenden Nachmittage
ausgeglitten, an einem Felſen herabgeſtürzt, und wäre wahrſcheinlich
zerſchmettert in der Tiefe angekommen, wenn nicht ſeine Kleider an wil¬
dem Geſträuch hangen geblieben wären und ſo ſeinen völligen Todes¬
ſturz gehemmt hätten. Darauf hatte er eine Felsplatte erreicht, die, rings
von ſchauerlichen Abgründen umgeben, für ihn zum hoffnungsloſen
Gefängniß ward. Die Nacht war nicht allzu kalt, ſo daß er ſein
Leben unter zerſetzender Angſt zu friſten vermochte, und als es
Tag geworden war, hatte er die beiden jungen Männer in großer
Ferne erblickt und ſie durch Rufen herbeigezogen. Die kühnen Berg¬
gänger kletterten nun zwar auf weiten Umwegen ſo nahe herzu,
daß ſie über ihm ſich poſtiren konnten; aber ihre gemeinſchaftlichen
Anſtrengungen würden nicht ausgereicht haben, ihn zu erlöſen, wenn
nicht, wie durch eine Fügung der Vorſehung, Herr Forbes am gleichen
Morgen dieſe ſelten beſuchte Gegend betreten und ſeinen Führer nach
Waſſer ausgeſandt haben würde. Während dieſer nun nach Waſſer
ausſpähte, erblickte er die mit Rettungsverſuchen ſich abmühenden
Burſchen und ſchloß unaufgefordert ſich ihnen an. Seinem ſeltenen
Muthe, ſeiner Ausdauer und Verwegenheit, ſo wie ſeinen enormen
phyſiſchen Kräften gelang es endlich, den Aermſten aus einer Lage
zu befreien, in welcher ſelbſt die verwegene Gemſe umgekommen
wäre. Balmat erzählte, daß er, an einer faſt glatten Felſenwand,
gleichſam klebend, ſeinen Fuß habe ausgleiten fühlen, als er das
ganze Gewicht des fremden Mannes auf ſich trug, und ſchon ſich
und den Anderen verloren gegeben habe, als er ſich noch anklam¬
mern und halten konnte. Nachdem Herr Forbes Alle mit Wein ein
wenig geſtärkt hatte, ſandte er den Fremden, deſſen Gehirnnerven be¬
denklich afficirt zu ſein ſchienen, in Begleitung der beiden Burſche
nach Chamouny hinab, während er mit Balmat ſelbſt den Schreckensort
aufſuchte. Seine ausführliche Schilderung deſſelben beſtätigt, daß es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0260" n="228"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Glet&#x017F;cher</hi>.<lb/></fw> &#x017F;amen Abhängen von <hi rendition="#aq">Trélaporte</hi> emporkletternd, &#x017F;ich ver&#x017F;tiegen und<lb/>
die ganze Nacht auf einer fa&#x017F;t unnahbaren Klippe zugebracht.<lb/>
Nach &#x017F;einer Erzählung war er am vorhergehenden Nachmittage<lb/>
ausgeglitten, an einem Fel&#x017F;en herabge&#x017F;türzt, und wäre wahr&#x017F;cheinlich<lb/>
zer&#x017F;chmettert in der Tiefe angekommen, wenn nicht &#x017F;eine Kleider an wil¬<lb/>
dem Ge&#x017F;träuch hangen geblieben wären und &#x017F;o &#x017F;einen völligen Todes¬<lb/>
&#x017F;turz gehemmt hätten. Darauf hatte er eine Felsplatte erreicht, die, rings<lb/>
von &#x017F;chauerlichen Abgründen umgeben, für ihn zum hoffnungslo&#x017F;en<lb/>
Gefängniß ward. Die Nacht war nicht allzu kalt, &#x017F;o daß er &#x017F;ein<lb/>
Leben unter zer&#x017F;etzender Ang&#x017F;t zu fri&#x017F;ten vermochte, und als es<lb/>
Tag geworden war, hatte er die beiden jungen Männer in großer<lb/>
Ferne erblickt und &#x017F;ie durch Rufen herbeigezogen. Die kühnen Berg¬<lb/>
gänger kletterten nun zwar auf weiten Umwegen &#x017F;o nahe herzu,<lb/>
daß &#x017F;ie über ihm &#x017F;ich po&#x017F;tiren konnten; aber ihre gemein&#x017F;chaftlichen<lb/>
An&#x017F;trengungen würden nicht ausgereicht haben, ihn zu erlö&#x017F;en, wenn<lb/>
nicht, wie durch eine Fügung der Vor&#x017F;ehung, Herr Forbes am gleichen<lb/>
Morgen die&#x017F;e &#x017F;elten be&#x017F;uchte Gegend betreten und &#x017F;einen Führer nach<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er ausge&#x017F;andt haben würde. Während die&#x017F;er nun nach Wa&#x017F;&#x017F;er<lb/>
aus&#x017F;pähte, erblickte er die mit Rettungsver&#x017F;uchen &#x017F;ich abmühenden<lb/>
Bur&#x017F;chen und &#x017F;chloß unaufgefordert &#x017F;ich ihnen an. Seinem &#x017F;eltenen<lb/>
Muthe, &#x017F;einer Ausdauer und Verwegenheit, &#x017F;o wie &#x017F;einen enormen<lb/>
phy&#x017F;i&#x017F;chen Kräften gelang es endlich, den Aerm&#x017F;ten aus einer Lage<lb/>
zu befreien, in welcher &#x017F;elb&#x017F;t die verwegene Gem&#x017F;e umgekommen<lb/>
wäre. Balmat erzählte, daß er, an einer fa&#x017F;t glatten Fel&#x017F;enwand,<lb/>
gleich&#x017F;am klebend, &#x017F;einen Fuß habe ausgleiten fühlen, als er das<lb/>
ganze Gewicht des fremden Mannes auf &#x017F;ich trug, und &#x017F;chon &#x017F;ich<lb/>
und den Anderen verloren gegeben habe, als er &#x017F;ich noch anklam¬<lb/>
mern und halten konnte. Nachdem Herr Forbes Alle mit Wein ein<lb/>
wenig ge&#x017F;tärkt hatte, &#x017F;andte er den Fremden, de&#x017F;&#x017F;en Gehirnnerven be¬<lb/>
denklich afficirt zu &#x017F;ein &#x017F;chienen, in Begleitung der beiden Bur&#x017F;che<lb/>
nach Chamouny hinab, während er mit Balmat &#x017F;elb&#x017F;t den Schreckensort<lb/>
auf&#x017F;uchte. Seine ausführliche Schilderung de&#x017F;&#x017F;elben be&#x017F;tätigt, daß es<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0260] Der Gletſcher. ſamen Abhängen von Trélaporte emporkletternd, ſich verſtiegen und die ganze Nacht auf einer faſt unnahbaren Klippe zugebracht. Nach ſeiner Erzählung war er am vorhergehenden Nachmittage ausgeglitten, an einem Felſen herabgeſtürzt, und wäre wahrſcheinlich zerſchmettert in der Tiefe angekommen, wenn nicht ſeine Kleider an wil¬ dem Geſträuch hangen geblieben wären und ſo ſeinen völligen Todes¬ ſturz gehemmt hätten. Darauf hatte er eine Felsplatte erreicht, die, rings von ſchauerlichen Abgründen umgeben, für ihn zum hoffnungsloſen Gefängniß ward. Die Nacht war nicht allzu kalt, ſo daß er ſein Leben unter zerſetzender Angſt zu friſten vermochte, und als es Tag geworden war, hatte er die beiden jungen Männer in großer Ferne erblickt und ſie durch Rufen herbeigezogen. Die kühnen Berg¬ gänger kletterten nun zwar auf weiten Umwegen ſo nahe herzu, daß ſie über ihm ſich poſtiren konnten; aber ihre gemeinſchaftlichen Anſtrengungen würden nicht ausgereicht haben, ihn zu erlöſen, wenn nicht, wie durch eine Fügung der Vorſehung, Herr Forbes am gleichen Morgen dieſe ſelten beſuchte Gegend betreten und ſeinen Führer nach Waſſer ausgeſandt haben würde. Während dieſer nun nach Waſſer ausſpähte, erblickte er die mit Rettungsverſuchen ſich abmühenden Burſchen und ſchloß unaufgefordert ſich ihnen an. Seinem ſeltenen Muthe, ſeiner Ausdauer und Verwegenheit, ſo wie ſeinen enormen phyſiſchen Kräften gelang es endlich, den Aermſten aus einer Lage zu befreien, in welcher ſelbſt die verwegene Gemſe umgekommen wäre. Balmat erzählte, daß er, an einer faſt glatten Felſenwand, gleichſam klebend, ſeinen Fuß habe ausgleiten fühlen, als er das ganze Gewicht des fremden Mannes auf ſich trug, und ſchon ſich und den Anderen verloren gegeben habe, als er ſich noch anklam¬ mern und halten konnte. Nachdem Herr Forbes Alle mit Wein ein wenig geſtärkt hatte, ſandte er den Fremden, deſſen Gehirnnerven be¬ denklich afficirt zu ſein ſchienen, in Begleitung der beiden Burſche nach Chamouny hinab, während er mit Balmat ſelbſt den Schreckensort aufſuchte. Seine ausführliche Schilderung deſſelben beſtätigt, daß es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/260
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/260>, abgerufen am 24.11.2024.