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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

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XIII. Zeichen des Verfalles.
Truppen und den versprengten Resten der Armeen, welche nach
den Siegen der Tae-pin und dem Fall von Su-tsau (1860) in ge-
lösten Schaaren plündernd durch das Land zogen und Shang-hae
überflutheten, wichen viele Bewohner mit Allem was sie bergen
konnten. Im Ganzen minderte sich die Volkszahl und vorzüglich
der Wohlstand. Die Verbrennung der reichsten Vorstadt, die
Stockungen des Handels, welche die Verwüstung der Seiden-
Districte durch die Tae-pin nach sich zog, und die für Krieg-
führung gegen diese gebrachten Opfer müssen die Bevölkerung
hart mitgenommen haben. Noch immer gab es vermögende Kauf-
leute; aber das Volk war arm und ausgezehrt. Aeussere Zeichen
der Opulenz sah man nirgends.

In minderem Grade erhält man den Eindruck tiefen Ver-
falles, welchen Shang-hae macht, auch in anderen chinesischen
Städten. Es ist, als hätte ihre Gesittung sich ausgelebt. Ueberall
zeigt sich die äusserste Vernachlässigung und Hinfälligkeit neben
Spuren der alten Cultur, Kraft und Grösse. In den Häusern der
Wohlhabenden schimmern das schönste Schnitzwerk, Porcelan und
Broncen von echtem Kunstwerth durch den Staub und Schmutz
von Jahrzehnten. Die Bemittelten kleiden sich noch reinlich und
anständig; aber ihr Hausrath ist zerbrochen, ihre Diener gehen
zerlumpt. Ueberall die gleichen Zeichen der Verkommenheit; selbst
der Luxus tritt plump und schäbig auf. So kann es nicht gewe-
sen sein in China's Blütheperioden. Viele Kunstfertigkeiten sind
ganz verloren gegangen; in anderen sind die Chinesen noch heute
Meister, so weit das Mechanische geht, sie können aber nur nach-
ahmen, nicht erfinden, schaffen; die Thatkraft fehlt und das mu-
thige Leben, das uns in Japan freute. Der heutige Chinese ist so
zu sagen das todte Erzeugniss seiner Erziehung; die Gesittung muss
altersschwach, verknöchert und ohne treibende Kraft sein, die
kein neues schaffendes Leben, keine thätigen Geister weckt.

Solch Urtheil mag hart klingen einem Volke gegenüber,
dessen Sprache man nicht kennt, und der Verfasser ist weit
entfernt, Kennern wie Meadows zu widersprechen, welche
mit Bewunderung von den sittlichen Eigenschaften der Chinesen
reden. Eine Cultur, die ein so ungeheures Volk zusammen-
gekittet, zu solcher Höhe der Bildung und des bürgerlichen Lebens
erhoben hat, -- in welchem zum geringsten Theile die Gewalt,
zum grössten das Bewusstsein des sittlichen Gesetzes Recht und

III. 25

XIII. Zeichen des Verfalles.
Truppen und den versprengten Resten der Armeen, welche nach
den Siegen der Tae-piṅ und dem Fall von Su-tšau (1860) in ge-
lösten Schaaren plündernd durch das Land zogen und Shang-hae
überflutheten, wichen viele Bewohner mit Allem was sie bergen
konnten. Im Ganzen minderte sich die Volkszahl und vorzüglich
der Wohlstand. Die Verbrennung der reichsten Vorstadt, die
Stockungen des Handels, welche die Verwüstung der Seiden-
Districte durch die Tae-piṅ nach sich zog, und die für Krieg-
führung gegen diese gebrachten Opfer müssen die Bevölkerung
hart mitgenommen haben. Noch immer gab es vermögende Kauf-
leute; aber das Volk war arm und ausgezehrt. Aeussere Zeichen
der Opulenz sah man nirgends.

In minderem Grade erhält man den Eindruck tiefen Ver-
falles, welchen Shang-hae macht, auch in anderen chinesischen
Städten. Es ist, als hätte ihre Gesittung sich ausgelebt. Ueberall
zeigt sich die äusserste Vernachlässigung und Hinfälligkeit neben
Spuren der alten Cultur, Kraft und Grösse. In den Häusern der
Wohlhabenden schimmern das schönste Schnitzwerk, Porcelan und
Broncen von echtem Kunstwerth durch den Staub und Schmutz
von Jahrzehnten. Die Bemittelten kleiden sich noch reinlich und
anständig; aber ihr Hausrath ist zerbrochen, ihre Diener gehen
zerlumpt. Ueberall die gleichen Zeichen der Verkommenheit; selbst
der Luxus tritt plump und schäbig auf. So kann es nicht gewe-
sen sein in China’s Blütheperioden. Viele Kunstfertigkeiten sind
ganz verloren gegangen; in anderen sind die Chinesen noch heute
Meister, so weit das Mechanische geht, sie können aber nur nach-
ahmen, nicht erfinden, schaffen; die Thatkraft fehlt und das mu-
thige Leben, das uns in Japan freute. Der heutige Chinese ist so
zu sagen das todte Erzeugniss seiner Erziehung; die Gesittung muss
altersschwach, verknöchert und ohne treibende Kraft sein, die
kein neues schaffendes Leben, keine thätigen Geister weckt.

Solch Urtheil mag hart klingen einem Volke gegenüber,
dessen Sprache man nicht kennt, und der Verfasser ist weit
entfernt, Kennern wie Meadows zu widersprechen, welche
mit Bewunderung von den sittlichen Eigenschaften der Chinesen
reden. Eine Cultur, die ein so ungeheures Volk zusammen-
gekittet, zu solcher Höhe der Bildung und des bürgerlichen Lebens
erhoben hat, — in welchem zum geringsten Theile die Gewalt,
zum grössten das Bewusstsein des sittlichen Gesetzes Recht und

III. 25
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[385/0407] XIII. Zeichen des Verfalles. Truppen und den versprengten Resten der Armeen, welche nach den Siegen der Tae-piṅ und dem Fall von Su-tšau (1860) in ge- lösten Schaaren plündernd durch das Land zogen und Shang-hae überflutheten, wichen viele Bewohner mit Allem was sie bergen konnten. Im Ganzen minderte sich die Volkszahl und vorzüglich der Wohlstand. Die Verbrennung der reichsten Vorstadt, die Stockungen des Handels, welche die Verwüstung der Seiden- Districte durch die Tae-piṅ nach sich zog, und die für Krieg- führung gegen diese gebrachten Opfer müssen die Bevölkerung hart mitgenommen haben. Noch immer gab es vermögende Kauf- leute; aber das Volk war arm und ausgezehrt. Aeussere Zeichen der Opulenz sah man nirgends. In minderem Grade erhält man den Eindruck tiefen Ver- falles, welchen Shang-hae macht, auch in anderen chinesischen Städten. Es ist, als hätte ihre Gesittung sich ausgelebt. Ueberall zeigt sich die äusserste Vernachlässigung und Hinfälligkeit neben Spuren der alten Cultur, Kraft und Grösse. In den Häusern der Wohlhabenden schimmern das schönste Schnitzwerk, Porcelan und Broncen von echtem Kunstwerth durch den Staub und Schmutz von Jahrzehnten. Die Bemittelten kleiden sich noch reinlich und anständig; aber ihr Hausrath ist zerbrochen, ihre Diener gehen zerlumpt. Ueberall die gleichen Zeichen der Verkommenheit; selbst der Luxus tritt plump und schäbig auf. So kann es nicht gewe- sen sein in China’s Blütheperioden. Viele Kunstfertigkeiten sind ganz verloren gegangen; in anderen sind die Chinesen noch heute Meister, so weit das Mechanische geht, sie können aber nur nach- ahmen, nicht erfinden, schaffen; die Thatkraft fehlt und das mu- thige Leben, das uns in Japan freute. Der heutige Chinese ist so zu sagen das todte Erzeugniss seiner Erziehung; die Gesittung muss altersschwach, verknöchert und ohne treibende Kraft sein, die kein neues schaffendes Leben, keine thätigen Geister weckt. Solch Urtheil mag hart klingen einem Volke gegenüber, dessen Sprache man nicht kennt, und der Verfasser ist weit entfernt, Kennern wie Meadows zu widersprechen, welche mit Bewunderung von den sittlichen Eigenschaften der Chinesen reden. Eine Cultur, die ein so ungeheures Volk zusammen- gekittet, zu solcher Höhe der Bildung und des bürgerlichen Lebens erhoben hat, — in welchem zum geringsten Theile die Gewalt, zum grössten das Bewusstsein des sittlichen Gesetzes Recht und III. 25

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/407>, abgerufen am 07.05.2024.