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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

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Die chinesische Gesittung. XIII.
Ordnung, den Staat und die Familie erhält und sichert, -- muss
auf festen Grundlagen ruhen: aber dem Eindruck kann sich kein
Unbefangener entziehen, dass sie nicht mehr schöpferisch wirkt.
Individuell hat der heutige Chinese etwas Fertiges, Selbstgenüg-
sames, ja Abgelebtes, Würdeloses. Vielen fehlt es nicht an einer
gewissen Tüchtigkeit: sie fassen schnell, handeln geschickt und
sind zu allen practischen Arbeiten anstellig, die man sie lehren
mag; doch hat ihr Wesen etwas Hohles, Prosaisches, Masken-
haftes. Fragt man ansässige Europäer, so spenden sie der Redlich-
keit und Zuverlässigkeit einzelner heimischen Kaufleute, Handlungs-
gehülfen und Diener das höchste Lob; viel mehr noch hört man
aber von Schurkerei, Hinterlist und berechneter Grausamkeit reden.
Die Familienliebe ist eine anerkannte Eigenschaft der Chinesen;
aber von Zügen hochherziger Freundschaft, Hingebung und Auf-
opferung wird wenig berichtet; und diejenigen Eigenschaften des
Geistes und Herzens, welche dem Leben den höchsten Werth ver-
leihen, scheinen selten zu sein. Ausnahmen giebt es gewiss; aber
im Ganzen ist der heutige Chinese ein gesundes Weltkind, das
sich mehr aus practischen als aus sittlichen Rücksichten der bür-
gerlichen Ordnung fügt, und auf seinen Vortheil bedacht ist, so
weit es ihn nicht in schlimme Conflicte bringt. So erscheint we-
nigstens dem oberflächlichen Beobachter der Durchschnitt. Ein zu-
verlässiger Maassstab für die Gesittung eines Volkes ist der Werth
des menschlichen Lebens, welcher steigt mit dessen würdigem Ge-
nuss. Der Werth des Menschenlebens ist aber kaum irgendwo
geringer als in China.

Oft wird behauptet, die Mandschu verschuldeten China's
Verfall. Hätte wohl nicht das massige Reich die wilden Horden
abgeschüttelt, wenn es bei voller Kraft war? Die Entsittlichung
am Hofe der letzten Min-Kaiser deutet auf arge Zerrüttung im
Volke. Man könnte sogar vermuthen, dass der kräftige, wenn auch
rohe Tartarenstamm dem alternden Körper frische Säfte zuführte.
Kan-gi, der in sechzigjähriger Regierung die Macht seines Hauses
begründete, war ein grosser Herrscher. Unter dem grössten Kaiser
der Tsin-Dynastie, Kien-lon, 127) der ebenfalls sechszig Jahre re-
gierte und dann abdankte, um seinen Grossvater nicht zu beschämen,

127) Kan-gi regierte von 1662 bis 1722; Kien-lon herrschte von 1735 bis 1795
und starb 1799, 89 Jahre alt.

Die chinesische Gesittung. XIII.
Ordnung, den Staat und die Familie erhält und sichert, — muss
auf festen Grundlagen ruhen: aber dem Eindruck kann sich kein
Unbefangener entziehen, dass sie nicht mehr schöpferisch wirkt.
Individuell hat der heutige Chinese etwas Fertiges, Selbstgenüg-
sames, ja Abgelebtes, Würdeloses. Vielen fehlt es nicht an einer
gewissen Tüchtigkeit: sie fassen schnell, handeln geschickt und
sind zu allen practischen Arbeiten anstellig, die man sie lehren
mag; doch hat ihr Wesen etwas Hohles, Prosaisches, Masken-
haftes. Fragt man ansässige Europäer, so spenden sie der Redlich-
keit und Zuverlässigkeit einzelner heimischen Kaufleute, Handlungs-
gehülfen und Diener das höchste Lob; viel mehr noch hört man
aber von Schurkerei, Hinterlist und berechneter Grausamkeit reden.
Die Familienliebe ist eine anerkannte Eigenschaft der Chinesen;
aber von Zügen hochherziger Freundschaft, Hingebung und Auf-
opferung wird wenig berichtet; und diejenigen Eigenschaften des
Geistes und Herzens, welche dem Leben den höchsten Werth ver-
leihen, scheinen selten zu sein. Ausnahmen giebt es gewiss; aber
im Ganzen ist der heutige Chinese ein gesundes Weltkind, das
sich mehr aus practischen als aus sittlichen Rücksichten der bür-
gerlichen Ordnung fügt, und auf seinen Vortheil bedacht ist, so
weit es ihn nicht in schlimme Conflicte bringt. So erscheint we-
nigstens dem oberflächlichen Beobachter der Durchschnitt. Ein zu-
verlässiger Maassstab für die Gesittung eines Volkes ist der Werth
des menschlichen Lebens, welcher steigt mit dessen würdigem Ge-
nuss. Der Werth des Menschenlebens ist aber kaum irgendwo
geringer als in China.

Oft wird behauptet, die Mandschu verschuldeten China’s
Verfall. Hätte wohl nicht das massige Reich die wilden Horden
abgeschüttelt, wenn es bei voller Kraft war? Die Entsittlichung
am Hofe der letzten Miṅ-Kaiser deutet auf arge Zerrüttung im
Volke. Man könnte sogar vermuthen, dass der kräftige, wenn auch
rohe Tartarenstamm dem alternden Körper frische Säfte zuführte.
Kaṅ-gi, der in sechzigjähriger Regierung die Macht seines Hauses
begründete, war ein grosser Herrscher. Unter dem grössten Kaiser
der Tsiṅ-Dynastie, Kien-loṅ, 127) der ebenfalls sechszig Jahre re-
gierte und dann abdankte, um seinen Grossvater nicht zu beschämen,

127) Kaṅ-gi regierte von 1662 bis 1722; Kien-loṅ herrschte von 1735 bis 1795
und starb 1799, 89 Jahre alt.
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[386/0408] Die chinesische Gesittung. XIII. Ordnung, den Staat und die Familie erhält und sichert, — muss auf festen Grundlagen ruhen: aber dem Eindruck kann sich kein Unbefangener entziehen, dass sie nicht mehr schöpferisch wirkt. Individuell hat der heutige Chinese etwas Fertiges, Selbstgenüg- sames, ja Abgelebtes, Würdeloses. Vielen fehlt es nicht an einer gewissen Tüchtigkeit: sie fassen schnell, handeln geschickt und sind zu allen practischen Arbeiten anstellig, die man sie lehren mag; doch hat ihr Wesen etwas Hohles, Prosaisches, Masken- haftes. Fragt man ansässige Europäer, so spenden sie der Redlich- keit und Zuverlässigkeit einzelner heimischen Kaufleute, Handlungs- gehülfen und Diener das höchste Lob; viel mehr noch hört man aber von Schurkerei, Hinterlist und berechneter Grausamkeit reden. Die Familienliebe ist eine anerkannte Eigenschaft der Chinesen; aber von Zügen hochherziger Freundschaft, Hingebung und Auf- opferung wird wenig berichtet; und diejenigen Eigenschaften des Geistes und Herzens, welche dem Leben den höchsten Werth ver- leihen, scheinen selten zu sein. Ausnahmen giebt es gewiss; aber im Ganzen ist der heutige Chinese ein gesundes Weltkind, das sich mehr aus practischen als aus sittlichen Rücksichten der bür- gerlichen Ordnung fügt, und auf seinen Vortheil bedacht ist, so weit es ihn nicht in schlimme Conflicte bringt. So erscheint we- nigstens dem oberflächlichen Beobachter der Durchschnitt. Ein zu- verlässiger Maassstab für die Gesittung eines Volkes ist der Werth des menschlichen Lebens, welcher steigt mit dessen würdigem Ge- nuss. Der Werth des Menschenlebens ist aber kaum irgendwo geringer als in China. Oft wird behauptet, die Mandschu verschuldeten China’s Verfall. Hätte wohl nicht das massige Reich die wilden Horden abgeschüttelt, wenn es bei voller Kraft war? Die Entsittlichung am Hofe der letzten Miṅ-Kaiser deutet auf arge Zerrüttung im Volke. Man könnte sogar vermuthen, dass der kräftige, wenn auch rohe Tartarenstamm dem alternden Körper frische Säfte zuführte. Kaṅ-gi, der in sechzigjähriger Regierung die Macht seines Hauses begründete, war ein grosser Herrscher. Unter dem grössten Kaiser der Tsiṅ-Dynastie, Kien-loṅ, 127) der ebenfalls sechszig Jahre re- gierte und dann abdankte, um seinen Grossvater nicht zu beschämen, 127) Kaṅ-gi regierte von 1662 bis 1722; Kien-loṅ herrschte von 1735 bis 1795 und starb 1799, 89 Jahre alt.

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/408>, abgerufen am 22.11.2024.