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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

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Entsatz von Nan-kin.
Schiffe nach Nan-kin bringen und die Garnison von der Wasser-
seite mit Vorräthen versorgen. Während der langen Belagerung
befreundeten sich die Truppen der beiden Partheien und verkehrten
vielfach ganz unbefangen mit einander; vor einem der Stadtthore
war selbst ein regelmässiger Markt eingerichtet, wo kaiserliche den
Tae-pin-Soldaten ihre Vorräthe verkauften. Bis 1859 soll die Be-
satzung der Stadt 15,000 Mann, die Cernirungsarmee gegen 30,000
gezählt haben; im Spätherbst genannten Jahres wurde aber letztere
auf 300,000 Mann gebracht, die Stadt durch die verstärkte kaiser-
liche Stromflotte auch auf der Wasserseite völlig cernirt, und mit
der Belagerung Ernst gemacht. Schon in den ersten Monaten des
folgenden Jahres litt die Garnison Mangel, und es soll nahe daran
gewesen sein, dass sie Menschenfleisch verzehrte. Der Tien-wan
sah nach des Tsun-wan Erzählung den Ereignissen mit unerschütter-
lichem Gleichmuth zu: "er beschränkte sich darauf seinen Ministern
einzuschärfen, dass sie den Vorschriften des Himmels nachkämen,
und sagte, der Anblick, der sie umgebe, sei ein Zeichen grossen
Friedens." Unterdessen suchten die Tae-pin-Führer ausserhalb
Nan-kin die Cernirungs-Armee durch Diversionen zu theilen. Der
Hülfskönig Si-ta-kae, -- der einige Jahre lang in Se-tsuen auf
eigene Hand operirte, -- rückte jetzt mit Heeresmacht in die Provinz
Tse-kian, nahm die Städte Ku-tsau und Yen-tsau, und verwüstete
die Landschaften westlich davon. Ein anderes Tae-pin-Corps über-
fiel das reiche Han-tsau und besetzte die Vorstädte, musste sich
aber nach verzweifeltem Kampf um die Ringmauer zurückziehen.
Kleinere Abtheilungen nahmen einzelne Plätze in den Nachbar-
bezirken; aber die Kaiserlichen konnten überall Truppen genug auf-
stellen, ohne die Cernirungsarmee zu schwächen, und wähnten schon
die Uebergabe in wenig Wochen erzwingen zu können. Da zogen
die Tae-pin in der Nähe von Nan-kin ein starkes Entsatz-Heer
zusammen, durchbrachen am 3. Mai 1860 die Linien der Kaiser-
lichen, zerstreuten die ganze Cernirungsarmee und erbeuteten alle
ihre Vorräthe. Auf den Tien-wan machte diese Befreiung so we-
nig Eindruck, dass er sie weder in seinen Manifesten erwähnte, noch
die siegreichen Feldherren zu sehen wünschte.

Die Cernirungsarmee war so vollständig geschlagen, dass sie
sich gar nicht wieder sammelte. Nan-kin wurde von keiner Seite
bedroht; die kaiserlichen Heere standen in grosser Ferne und die
Tae-pin ergriffen die Offensive. Yin-Wan, der Heldenkönig, brach

Entsatz von Nan-kiṅ.
Schiffe nach Nan-kiṅ bringen und die Garnison von der Wasser-
seite mit Vorräthen versorgen. Während der langen Belagerung
befreundeten sich die Truppen der beiden Partheien und verkehrten
vielfach ganz unbefangen mit einander; vor einem der Stadtthore
war selbst ein regelmässiger Markt eingerichtet, wo kaiserliche den
Tae-piṅ-Soldaten ihre Vorräthe verkauften. Bis 1859 soll die Be-
satzung der Stadt 15,000 Mann, die Cernirungsarmee gegen 30,000
gezählt haben; im Spätherbst genannten Jahres wurde aber letztere
auf 300,000 Mann gebracht, die Stadt durch die verstärkte kaiser-
liche Stromflotte auch auf der Wasserseite völlig cernirt, und mit
der Belagerung Ernst gemacht. Schon in den ersten Monaten des
folgenden Jahres litt die Garnison Mangel, und es soll nahe daran
gewesen sein, dass sie Menschenfleisch verzehrte. Der Tien-waṅ
sah nach des Tšun-waṅ Erzählung den Ereignissen mit unerschütter-
lichem Gleichmuth zu: »er beschränkte sich darauf seinen Ministern
einzuschärfen, dass sie den Vorschriften des Himmels nachkämen,
und sagte, der Anblick, der sie umgebe, sei ein Zeichen grossen
Friedens.« Unterdessen suchten die Tae-piṅ-Führer ausserhalb
Nan-kiṅ die Cernirungs-Armee durch Diversionen zu theilen. Der
Hülfskönig Ši-ta-kae, — der einige Jahre lang in Se-tšuen auf
eigene Hand operirte, — rückte jetzt mit Heeresmacht in die Provinz
Tše-kiaṅ, nahm die Städte Ku-tšau und Yen-tšau, und verwüstete
die Landschaften westlich davon. Ein anderes Tae-piṅ-Corps über-
fiel das reiche Haṅ-tšau und besetzte die Vorstädte, musste sich
aber nach verzweifeltem Kampf um die Ringmauer zurückziehen.
Kleinere Abtheilungen nahmen einzelne Plätze in den Nachbar-
bezirken; aber die Kaiserlichen konnten überall Truppen genug auf-
stellen, ohne die Cernirungsarmee zu schwächen, und wähnten schon
die Uebergabe in wenig Wochen erzwingen zu können. Da zogen
die Tae-piṅ in der Nähe von Nan-kiṅ ein starkes Entsatz-Heer
zusammen, durchbrachen am 3. Mai 1860 die Linien der Kaiser-
lichen, zerstreuten die ganze Cernirungsarmee und erbeuteten alle
ihre Vorräthe. Auf den Tien-waṅ machte diese Befreiung so we-
nig Eindruck, dass er sie weder in seinen Manifesten erwähnte, noch
die siegreichen Feldherren zu sehen wünschte.

Die Cernirungsarmee war so vollständig geschlagen, dass sie
sich gar nicht wieder sammelte. Nan-kiṅ wurde von keiner Seite
bedroht; die kaiserlichen Heere standen in grosser Ferne und die
Tae-piṅ ergriffen die Offensive. Yiṅ-Waṅ, der Heldenkönig, brach

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[272/0294] Entsatz von Nan-kiṅ. Schiffe nach Nan-kiṅ bringen und die Garnison von der Wasser- seite mit Vorräthen versorgen. Während der langen Belagerung befreundeten sich die Truppen der beiden Partheien und verkehrten vielfach ganz unbefangen mit einander; vor einem der Stadtthore war selbst ein regelmässiger Markt eingerichtet, wo kaiserliche den Tae-piṅ-Soldaten ihre Vorräthe verkauften. Bis 1859 soll die Be- satzung der Stadt 15,000 Mann, die Cernirungsarmee gegen 30,000 gezählt haben; im Spätherbst genannten Jahres wurde aber letztere auf 300,000 Mann gebracht, die Stadt durch die verstärkte kaiser- liche Stromflotte auch auf der Wasserseite völlig cernirt, und mit der Belagerung Ernst gemacht. Schon in den ersten Monaten des folgenden Jahres litt die Garnison Mangel, und es soll nahe daran gewesen sein, dass sie Menschenfleisch verzehrte. Der Tien-waṅ sah nach des Tšun-waṅ Erzählung den Ereignissen mit unerschütter- lichem Gleichmuth zu: »er beschränkte sich darauf seinen Ministern einzuschärfen, dass sie den Vorschriften des Himmels nachkämen, und sagte, der Anblick, der sie umgebe, sei ein Zeichen grossen Friedens.« Unterdessen suchten die Tae-piṅ-Führer ausserhalb Nan-kiṅ die Cernirungs-Armee durch Diversionen zu theilen. Der Hülfskönig Ši-ta-kae, — der einige Jahre lang in Se-tšuen auf eigene Hand operirte, — rückte jetzt mit Heeresmacht in die Provinz Tše-kiaṅ, nahm die Städte Ku-tšau und Yen-tšau, und verwüstete die Landschaften westlich davon. Ein anderes Tae-piṅ-Corps über- fiel das reiche Haṅ-tšau und besetzte die Vorstädte, musste sich aber nach verzweifeltem Kampf um die Ringmauer zurückziehen. Kleinere Abtheilungen nahmen einzelne Plätze in den Nachbar- bezirken; aber die Kaiserlichen konnten überall Truppen genug auf- stellen, ohne die Cernirungsarmee zu schwächen, und wähnten schon die Uebergabe in wenig Wochen erzwingen zu können. Da zogen die Tae-piṅ in der Nähe von Nan-kiṅ ein starkes Entsatz-Heer zusammen, durchbrachen am 3. Mai 1860 die Linien der Kaiser- lichen, zerstreuten die ganze Cernirungsarmee und erbeuteten alle ihre Vorräthe. Auf den Tien-waṅ machte diese Befreiung so we- nig Eindruck, dass er sie weder in seinen Manifesten erwähnte, noch die siegreichen Feldherren zu sehen wünschte. Die Cernirungsarmee war so vollständig geschlagen, dass sie sich gar nicht wieder sammelte. Nan-kiṅ wurde von keiner Seite bedroht; die kaiserlichen Heere standen in grosser Ferne und die Tae-piṅ ergriffen die Offensive. Yiṅ-Waṅ, der Heldenkönig, brach

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/294>, abgerufen am 28.04.2024.