Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

Bild:
<< vorherige Seite

Tsin-kian-fu genommen.
langem Marsch durch die Vorstädte nahm. Der Strassenkampf
wurde mit Erbitterung fortgesetzt; die Tartaren vertheidigten sich
hartnäckig in Häusern und hinter Gartenmauern; viele Gebäude
mussten in Brand geschossen werden. Da Alles verloren war, ver-
brannte Hae-lin sich in seinem Hause auf einem aus Holz und
amtlichen Schriften aufgethürmten Scheiterhaufen; man fand nur
den Schädel und die Knochen seiner Füsse. -- Nachher begannen
wieder die Greuel unter den Tartaren-Frauen; nur wenige konnten
verhindert werden, sich selbst und ihre Kinder grässlich zu morden.
Den Schlussact spielten die unvermeidlichen Banditen, die auch
hier mit ruchloser Frechheit plünderten.

Die Tartaren hatten sich bis auf den letzten Mann geschla-
gen; die ausserhalb der Stadt aufgestellten chinesischen Truppen
jagte die dritte englische Colonne leicht auseinander. Ein grosser
Theil der Stadtmauern wurde gesprengt. -- Die Einnahme von
Tsin-kian-fu entschied den Krieg; denn die Briten konnten nun
den Kaiser-Canal sperren und, da sie auch die See beherrschten,
die nördlichen Provinzen leicht aushungern. China war in zwei
Hälften zerschnitten, der Süden vom Norden abgetrennt und sich
selbst überlassen; wie leicht mochte dort der Aufruhr sein Haupt
erheben! Den alten Wahn von der Unbesiegbarkeit tartarischer
Truppen hatten die Engländer in Tsa-pu und Tsin-kian-fu gründ-
lich zerstört, und die Mandschu auch dadurch einer wichtigen
Stütze beraubt.

Der Krieg bewirkte in den von ihm berührten Gegenden
eine Auflösung aller bürgerlichen Ordnung. Fast überall bildet in
China das Proletariat den überwiegenden Theil der Bevölkerung
und wird den besitzenden Classen furchtbar, sobald der Druck der
Autorität aufhört. In den bedrohten Gegenden pflegten die Manda-
rinen den Kopf zu verlieren; ihre Bestürzung und Rathlosigkeit
gab dem Gesindel freies Spiel. Tausende von Räubern rotteten
sich zusammen, plünderten das Land und schleppten alle beweg-
liche Habe, ja die Thüren und Fenster mit fort; andere Banden
fielen über sie her und kämpften mit ihnen um die Beute. Auf
den Gewässern trieben Piraten ihr Handwerk, und nirgends
gab es Sicherheit, bis die englischen Truppen erschienen. Deren
Anwesenheit war überall eine Befreiung für die ruhige Bevölkerung;
denn sie hielten strenge Mannszucht, bezahlten ihre Bedürfnisse
und wehrten energisch den heimischen Banditen. Ihr Betragen

Tšiṅ-kiaṅ-fu genommen.
langem Marsch durch die Vorstädte nahm. Der Strassenkampf
wurde mit Erbitterung fortgesetzt; die Tartaren vertheidigten sich
hartnäckig in Häusern und hinter Gartenmauern; viele Gebäude
mussten in Brand geschossen werden. Da Alles verloren war, ver-
brannte Hae-liṅ sich in seinem Hause auf einem aus Holz und
amtlichen Schriften aufgethürmten Scheiterhaufen; man fand nur
den Schädel und die Knochen seiner Füsse. — Nachher begannen
wieder die Greuel unter den Tartaren-Frauen; nur wenige konnten
verhindert werden, sich selbst und ihre Kinder grässlich zu morden.
Den Schlussact spielten die unvermeidlichen Banditen, die auch
hier mit ruchloser Frechheit plünderten.

Die Tartaren hatten sich bis auf den letzten Mann geschla-
gen; die ausserhalb der Stadt aufgestellten chinesischen Truppen
jagte die dritte englische Colonne leicht auseinander. Ein grosser
Theil der Stadtmauern wurde gesprengt. — Die Einnahme von
Tšiṅ-kiaṅ-fu entschied den Krieg; denn die Briten konnten nun
den Kaiser-Canal sperren und, da sie auch die See beherrschten,
die nördlichen Provinzen leicht aushungern. China war in zwei
Hälften zerschnitten, der Süden vom Norden abgetrennt und sich
selbst überlassen; wie leicht mochte dort der Aufruhr sein Haupt
erheben! Den alten Wahn von der Unbesiegbarkeit tartarischer
Truppen hatten die Engländer in Tša-pu und Tšiṅ-kiaṅ-fu gründ-
lich zerstört, und die Mandschu auch dadurch einer wichtigen
Stütze beraubt.

Der Krieg bewirkte in den von ihm berührten Gegenden
eine Auflösung aller bürgerlichen Ordnung. Fast überall bildet in
China das Proletariat den überwiegenden Theil der Bevölkerung
und wird den besitzenden Classen furchtbar, sobald der Druck der
Autorität aufhört. In den bedrohten Gegenden pflegten die Manda-
rinen den Kopf zu verlieren; ihre Bestürzung und Rathlosigkeit
gab dem Gesindel freies Spiel. Tausende von Räubern rotteten
sich zusammen, plünderten das Land und schleppten alle beweg-
liche Habe, ja die Thüren und Fenster mit fort; andere Banden
fielen über sie her und kämpften mit ihnen um die Beute. Auf
den Gewässern trieben Piraten ihr Handwerk, und nirgends
gab es Sicherheit, bis die englischen Truppen erschienen. Deren
Anwesenheit war überall eine Befreiung für die ruhige Bevölkerung;
denn sie hielten strenge Mannszucht, bezahlten ihre Bedürfnisse
und wehrten energisch den heimischen Banditen. Ihr Betragen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0145" n="123"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k"><placeName>T&#x0161;in&#x0307;-kian&#x0307;-fu</placeName></hi> genommen.</fw><lb/>
langem Marsch durch die Vorstädte nahm. Der Strassenkampf<lb/>
wurde mit Erbitterung fortgesetzt; die Tartaren vertheidigten sich<lb/>
hartnäckig in Häusern und hinter Gartenmauern; viele Gebäude<lb/>
mussten in Brand geschossen werden. Da Alles verloren war, ver-<lb/>
brannte <hi rendition="#k"><persName ref="nognd">Hae-lin&#x0307;</persName></hi> sich in seinem Hause auf einem aus Holz und<lb/>
amtlichen Schriften aufgethürmten Scheiterhaufen; man fand nur<lb/>
den Schädel und die Knochen seiner Füsse. &#x2014; Nachher begannen<lb/>
wieder die Greuel unter den Tartaren-Frauen; nur wenige konnten<lb/>
verhindert werden, sich selbst und ihre Kinder grässlich zu morden.<lb/>
Den Schlussact spielten die unvermeidlichen Banditen, die auch<lb/>
hier mit ruchloser Frechheit plünderten.</p><lb/>
          <p>Die Tartaren hatten sich bis auf den letzten Mann geschla-<lb/>
gen; die ausserhalb der Stadt aufgestellten chinesischen Truppen<lb/>
jagte die dritte englische Colonne leicht auseinander. Ein grosser<lb/>
Theil der Stadtmauern wurde gesprengt. &#x2014; Die Einnahme von<lb/><hi rendition="#k"><placeName>T&#x0161;in&#x0307;-kian&#x0307;-fu</placeName></hi> entschied den Krieg; denn die Briten konnten nun<lb/>
den <placeName>Kaiser-Canal</placeName> sperren und, da sie auch die See beherrschten,<lb/>
die nördlichen Provinzen leicht aushungern. <placeName>China</placeName> war in zwei<lb/>
Hälften zerschnitten, der Süden vom Norden abgetrennt und sich<lb/>
selbst überlassen; wie leicht mochte dort der Aufruhr sein Haupt<lb/>
erheben! Den alten Wahn von der Unbesiegbarkeit tartarischer<lb/>
Truppen hatten die Engländer in <hi rendition="#k"><placeName>T&#x0161;a-pu</placeName></hi> und <hi rendition="#k"><placeName>T&#x0161;in&#x0307;-kian&#x0307;-fu</placeName></hi> gründ-<lb/>
lich zerstört, und die Mandschu auch dadurch einer wichtigen<lb/>
Stütze beraubt.</p><lb/>
          <p>Der Krieg bewirkte in den von ihm berührten Gegenden<lb/>
eine Auflösung aller bürgerlichen Ordnung. Fast überall bildet in<lb/><placeName>China</placeName> das Proletariat den überwiegenden Theil der Bevölkerung<lb/>
und wird den besitzenden Classen furchtbar, sobald der Druck der<lb/>
Autorität aufhört. In den bedrohten Gegenden pflegten die Manda-<lb/>
rinen den Kopf zu verlieren; ihre Bestürzung und Rathlosigkeit<lb/>
gab dem Gesindel freies Spiel. Tausende von Räubern rotteten<lb/>
sich zusammen, plünderten das Land und schleppten alle beweg-<lb/>
liche Habe, ja die Thüren und Fenster mit fort; andere Banden<lb/>
fielen über sie her und kämpften mit ihnen um die Beute. Auf<lb/>
den Gewässern trieben Piraten ihr Handwerk, und nirgends<lb/>
gab es Sicherheit, bis die englischen Truppen erschienen. Deren<lb/>
Anwesenheit war überall eine Befreiung für die ruhige Bevölkerung;<lb/>
denn sie hielten strenge Mannszucht, bezahlten ihre Bedürfnisse<lb/>
und wehrten energisch den heimischen Banditen. Ihr Betragen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0145] Tšiṅ-kiaṅ-fu genommen. langem Marsch durch die Vorstädte nahm. Der Strassenkampf wurde mit Erbitterung fortgesetzt; die Tartaren vertheidigten sich hartnäckig in Häusern und hinter Gartenmauern; viele Gebäude mussten in Brand geschossen werden. Da Alles verloren war, ver- brannte Hae-liṅ sich in seinem Hause auf einem aus Holz und amtlichen Schriften aufgethürmten Scheiterhaufen; man fand nur den Schädel und die Knochen seiner Füsse. — Nachher begannen wieder die Greuel unter den Tartaren-Frauen; nur wenige konnten verhindert werden, sich selbst und ihre Kinder grässlich zu morden. Den Schlussact spielten die unvermeidlichen Banditen, die auch hier mit ruchloser Frechheit plünderten. Die Tartaren hatten sich bis auf den letzten Mann geschla- gen; die ausserhalb der Stadt aufgestellten chinesischen Truppen jagte die dritte englische Colonne leicht auseinander. Ein grosser Theil der Stadtmauern wurde gesprengt. — Die Einnahme von Tšiṅ-kiaṅ-fu entschied den Krieg; denn die Briten konnten nun den Kaiser-Canal sperren und, da sie auch die See beherrschten, die nördlichen Provinzen leicht aushungern. China war in zwei Hälften zerschnitten, der Süden vom Norden abgetrennt und sich selbst überlassen; wie leicht mochte dort der Aufruhr sein Haupt erheben! Den alten Wahn von der Unbesiegbarkeit tartarischer Truppen hatten die Engländer in Tša-pu und Tšiṅ-kiaṅ-fu gründ- lich zerstört, und die Mandschu auch dadurch einer wichtigen Stütze beraubt. Der Krieg bewirkte in den von ihm berührten Gegenden eine Auflösung aller bürgerlichen Ordnung. Fast überall bildet in China das Proletariat den überwiegenden Theil der Bevölkerung und wird den besitzenden Classen furchtbar, sobald der Druck der Autorität aufhört. In den bedrohten Gegenden pflegten die Manda- rinen den Kopf zu verlieren; ihre Bestürzung und Rathlosigkeit gab dem Gesindel freies Spiel. Tausende von Räubern rotteten sich zusammen, plünderten das Land und schleppten alle beweg- liche Habe, ja die Thüren und Fenster mit fort; andere Banden fielen über sie her und kämpften mit ihnen um die Beute. Auf den Gewässern trieben Piraten ihr Handwerk, und nirgends gab es Sicherheit, bis die englischen Truppen erschienen. Deren Anwesenheit war überall eine Befreiung für die ruhige Bevölkerung; denn sie hielten strenge Mannszucht, bezahlten ihre Bedürfnisse und wehrten energisch den heimischen Banditen. Ihr Betragen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/145
Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/145>, abgerufen am 05.12.2024.