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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866.

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Anh. II. Die politische Lage.
zu geben, -- deren Verkehr sie im Grunde wünschen, -- nur um
den Taikun in Krieg mit ihnen zu verwickeln und seinen Thron um
so leichter zu stürzen. Sie benutzen die durch Vertheuerung der
Lebensmittel hervorgerufene Unzufriedenheit, um die öffentliche
Meinung zu erregen und durch Conflicte mit den Fremden einen
ernsten Zusammenstoss herbeizuführen. Die am meisten unter der
Theuerung leidenden Classen sind die Soldaten und niederen Be-
amten, welche bei Ansprüchen äusseren Anstandes nur knapp zu
leben haben. Diese zahlreiche vom alten japanischen Nationalstolz
durchdrungene Classe wird fanatisirt zum äussersten Hass gegen
die Fremden und gegen die Regierung, welche sie duldet. Es ist
sehr unwahrscheinlich, dass irgend ein Angriff auf Ausländer oder
fremdenfreundliche Japaner auf unmittelbare Anstiftung eines be-
stimmten Daimio erfolgte, aber es war genug die heissblütigen
Samrai zum Fremdenhass aufzustacheln und sie gewähren zu lassen.
Dieser Schlag bildete wohl den Kern der Lonin-Banden7), welche
sich dann durch Zuzug von gesetzlosem Gesindel verstärkten. --
Die schwächliche Regierung wusste sich nicht zu helfen. Der Krieg
mit dem Auslande brachte ihr sicheren Untergang; ein enges
Bündniss mit demselben mehrte den Anhang ihrer Gegner. Daher
die beständigen Schwankungen, das Laviren nach beiden Seiten.
Sie suchte die Ausfuhr zu beschränken, welche Theuerung her-
vorrief, und sich den Mikado zu verbinden, dessen Autorität die
Siogun-Herrschaft in ihrer Blüthezeit niemals angerufen hat.
Der Erbkaiser sollte durch Vermälung seiner Schwester mit dem
Taikun dessen Politik und die Verträge mit den Fremden still-
schweigend sanctioniren.

Herr Alcock traf nach kurzem Verweilen in Kanagava am
4. Juli wieder in Yeddo ein. In der Nacht vom 5. zum 6. erfolgte
der im X. Abschnitt des Reiseberichtes erwähnte Angriff auf die
Gesandtschaft.

Das Grundstück von To-dzen-dzi gränzt östlich an den
Tokaido, von wo ein dreihundert Schritt langer, breiter und ebener
Weg nach dem Tempel führt; hinter diesem liegt die Gräberstätte

7) Lonin im eigentlichen Sinne ist jeder Samrai der keinen Herrn hat. Es
gibt darunter viele rechtschaffene Leute, die Vermögen besitzen und auf eigene
Hand leben. Wer dem Gesetze trotz bietet, sagt sich auch von seinem Herrn los;
wegen schlechter Führung aus dem Dienst entlassene Samrai werden gewöhnlich
Banditen, deshalb braucht man auch für letztere im Allgemeinen den Ausdruck
Lonine.

Anh. II. Die politische Lage.
zu geben, — deren Verkehr sie im Grunde wünschen, — nur um
den Taïkūn in Krieg mit ihnen zu verwickeln und seinen Thron um
so leichter zu stürzen. Sie benutzen die durch Vertheuerung der
Lebensmittel hervorgerufene Unzufriedenheit, um die öffentliche
Meinung zu erregen und durch Conflicte mit den Fremden einen
ernsten Zusammenstoss herbeizuführen. Die am meisten unter der
Theuerung leidenden Classen sind die Soldaten und niederen Be-
amten, welche bei Ansprüchen äusseren Anstandes nur knapp zu
leben haben. Diese zahlreiche vom alten japanischen Nationalstolz
durchdrungene Classe wird fanatisirt zum äussersten Hass gegen
die Fremden und gegen die Regierung, welche sie duldet. Es ist
sehr unwahrscheinlich, dass irgend ein Angriff auf Ausländer oder
fremdenfreundliche Japaner auf unmittelbare Anstiftung eines be-
stimmten Daïmio erfolgte, aber es war genug die heissblütigen
Samraï zum Fremdenhass aufzustacheln und sie gewähren zu lassen.
Dieser Schlag bildete wohl den Kern der Lonin-Banden7), welche
sich dann durch Zuzug von gesetzlosem Gesindel verstärkten. —
Die schwächliche Regierung wusste sich nicht zu helfen. Der Krieg
mit dem Auslande brachte ihr sicheren Untergang; ein enges
Bündniss mit demselben mehrte den Anhang ihrer Gegner. Daher
die beständigen Schwankungen, das Laviren nach beiden Seiten.
Sie suchte die Ausfuhr zu beschränken, welche Theuerung her-
vorrief, und sich den Mikado zu verbinden, dessen Autorität die
Siogun-Herrschaft in ihrer Blüthezeit niemals angerufen hat.
Der Erbkaiser sollte durch Vermälung seiner Schwester mit dem
Taïkūn dessen Politik und die Verträge mit den Fremden still-
schweigend sanctioniren.

Herr Alcock traf nach kurzem Verweilen in Kanagava am
4. Juli wieder in Yeddo ein. In der Nacht vom 5. zum 6. erfolgte
der im X. Abschnitt des Reiseberichtes erwähnte Angriff auf die
Gesandtschaft.

Das Grundstück von To-džen-dži gränzt östlich an den
Tokaïdo, von wo ein dreihundert Schritt langer, breiter und ebener
Weg nach dem Tempel führt; hinter diesem liegt die Gräberstätte

7) Lonin im eigentlichen Sinne ist jeder Samraï der keinen Herrn hat. Es
gibt darunter viele rechtschaffene Leute, die Vermögen besitzen und auf eigene
Hand leben. Wer dem Gesetze trotz bietet, sagt sich auch von seinem Herrn los;
wegen schlechter Führung aus dem Dienst entlassene Samraï werden gewöhnlich
Banditen, deshalb braucht man auch für letztere im Allgemeinen den Ausdruck
Lonine.
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[253/0273] Anh. II. Die politische Lage. zu geben, — deren Verkehr sie im Grunde wünschen, — nur um den Taïkūn in Krieg mit ihnen zu verwickeln und seinen Thron um so leichter zu stürzen. Sie benutzen die durch Vertheuerung der Lebensmittel hervorgerufene Unzufriedenheit, um die öffentliche Meinung zu erregen und durch Conflicte mit den Fremden einen ernsten Zusammenstoss herbeizuführen. Die am meisten unter der Theuerung leidenden Classen sind die Soldaten und niederen Be- amten, welche bei Ansprüchen äusseren Anstandes nur knapp zu leben haben. Diese zahlreiche vom alten japanischen Nationalstolz durchdrungene Classe wird fanatisirt zum äussersten Hass gegen die Fremden und gegen die Regierung, welche sie duldet. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass irgend ein Angriff auf Ausländer oder fremdenfreundliche Japaner auf unmittelbare Anstiftung eines be- stimmten Daïmio erfolgte, aber es war genug die heissblütigen Samraï zum Fremdenhass aufzustacheln und sie gewähren zu lassen. Dieser Schlag bildete wohl den Kern der Lonin-Banden 7), welche sich dann durch Zuzug von gesetzlosem Gesindel verstärkten. — Die schwächliche Regierung wusste sich nicht zu helfen. Der Krieg mit dem Auslande brachte ihr sicheren Untergang; ein enges Bündniss mit demselben mehrte den Anhang ihrer Gegner. Daher die beständigen Schwankungen, das Laviren nach beiden Seiten. Sie suchte die Ausfuhr zu beschränken, welche Theuerung her- vorrief, und sich den Mikado zu verbinden, dessen Autorität die Siogun-Herrschaft in ihrer Blüthezeit niemals angerufen hat. Der Erbkaiser sollte durch Vermälung seiner Schwester mit dem Taïkūn dessen Politik und die Verträge mit den Fremden still- schweigend sanctioniren. Herr Alcock traf nach kurzem Verweilen in Kanagava am 4. Juli wieder in Yeddo ein. In der Nacht vom 5. zum 6. erfolgte der im X. Abschnitt des Reiseberichtes erwähnte Angriff auf die Gesandtschaft. Das Grundstück von To-džen-dži gränzt östlich an den Tokaïdo, von wo ein dreihundert Schritt langer, breiter und ebener Weg nach dem Tempel führt; hinter diesem liegt die Gräberstätte 7) Lonin im eigentlichen Sinne ist jeder Samraï der keinen Herrn hat. Es gibt darunter viele rechtschaffene Leute, die Vermögen besitzen und auf eigene Hand leben. Wer dem Gesetze trotz bietet, sagt sich auch von seinem Herrn los; wegen schlechter Führung aus dem Dienst entlassene Samraï werden gewöhnlich Banditen, deshalb braucht man auch für letztere im Allgemeinen den Ausdruck Lonine.

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 2. Berlin, 1866, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien02_1866/273>, abgerufen am 22.11.2024.